Platonakademie(209): Ethik Spezial. Das Pendel Diktatur - Demokratie schwingt seit es Bevölkerungswachstum gibt / War Herakles der größte Revolutionsführer der Geschichte? / Verbliebene Denkmäler: die Palästinenser und die Altbaiern

Platon-Akademie, 26. November 2016

Am 16.11.2016 schrieb Gustav Seibt in der SZ über negative Folgen des Wohlstands (S.11). Die SZ berief sich damit erfreulicherweise auch einmal auf Platon: Wohlstand, stellte schon Platon im STAAT fest, beschleunige die Geringschätzung der Gesetze. Es wachse der Wunsch des Einzelnen, keiner diktierenden Macht mehr gehorchen zu müssen. Die Alleinherrschaft im Sinn, kann sich jedoch in dieser Situation ein Demagoge in der Rolle des Gnädigen hervortun. Er verspricht ins Blaue hinein, sichert Rechte zu, erlässt Schulden und nutzt so das Übermaß an individueller Freiheit für den Aufbau seiner Diktatur. Der Artikel zitiert moderne Autoren, die diesen Standpunkt Platons teilen.

PM(63) durchleuchtete, warum Individualismus, wenn er es zu weit treibt, die Ordnung einer Massengesellschaft stets destabilisiert. Erst einmal marode geworden, bricht sie dann wie ein Dach über den Individuen zusammen und bringt ihnen das Gegenteil von dem, was sie erreichen wollten: Der Schutt begräbt unter sich alles. Nur eines noch verhindert das Schlimmste: Die Katastrophe ist Nahrung für Diktaturen.

Die Antike überliefert uns über diese Theorie hinaus auch einen Blick in das, was real geschah: Das Pendeln der Diktatur (komplementär dazu der Demokratie) kann man bis in die griechische Vorgeschichte zurückverfolgen, Epochen, die noch keine schriftlichen Aufzeichnungen machten. Sie hinterließen aber Sagen mit logischem Zusammenhang, und begleitend dazu archäologische und sprachliche Zeugnisse.

I. Der ökologische Rahmen
der Instabilität

Den ökologischen Rahmen einer stabilen Massenordnung steckte - intuitiv-philosophisch argumentierend - bereits Platon ab. Er hatte gespürt, dass einer Gesellschaft das soziologische Gleichgewicht fehlt. PM(18) beschrieb, dass dem Denker dieselbe Staatsordnung eingefallen war, mit der staatenbildende Insekten ihre Massengesellschaften stabil halten, obwohl er die Begabung der Insekten für eine erfolgreiche staatliche Organisation noch gar nicht kannte.

Offenbar, so dürfen wir heute ergänzen, können menschliche Staatsdenker von der unbewussten Insekten-Intelligenz mehr lernen als von anthropozentrischen Hypothesen. Die Insekten entwickeln die drei Stände
1. Die Regierung (in Form eines „Königspaars“, das die nötigen Gene ausgibt)
2. Militärstand und
3. Arbeiterschicht.
Wenn diese Struktur in der Lage ist, alles Privatleben zu unterbinden, vor allem das sexuelle, so dass unter den Individuen keiner den andern persönlich kennt, ist die soziale Ordnung der Masse stabil. Genau das sichern die Insekten genetisch.

Ganz unbewusst ist denn auch Sexualität im menschlichen Massenstaat verpönt. Sie wird verfolgt statt geachtet, und weil die Gesellschaft ihre Fortpflanzung nicht einem einzelnen Paar überlassen kann, wird sie nur noch unter strengster (moralischer) Kontrolle akzeptiert. Sexuelle Wünsche gelten als schlechteste Charaktereigenschaften überhaupt.

Jede humane Staatsordnung tendiert nach dem Insektenmuster dazu, den Einzelnen anonym nur noch mit einer Nummer aufzulisten. Er empfindet das jedoch als Herabsetzung, und z.B. eine individuelle Arbeit für Fremde Interessen stellt an ihn Ansprüche, die er in der Regel erst unter Einsatz eines anerzogenen Pflichtbewusstseins erfüllen will. Das sind Fundamentalprobleme.

Wenn also der Staat - ob nun bei Insekten oder Menschen - demonstriert, dass der Einzelne sich restlos unterordnen soll, so sind, genetisch gesehen, Menschen trotzdem nicht Wesen aus der Sphäre der Anonymität, sondern haben die angeborenen Verhaltensmotive „privatsphärischer“ Wesen. Sie setzen fort, was sie in der Urzeit waren: Mitglieder kleiner Lebensgemeinschaften, für die Anonymität immer kontraproduktiv ist. In vielen soziologischen Überlegungen, auch schon in Le Bons PSYCHOLOGIE DER MASSEN klingt das mit.

Mit anderen Worten: Platon lenkte den Blick auf die Ratlosigkeit des Menschen in Sachen Gesetzgebung. Seit der Bevölkerungszunahme (nach der letzten Eiszeit) äußert sie sich in soziostrukturellen Verbesserungsversuchen. Bevölkerungszunahme wird nicht als ökologisch fatal eingestuft, weil ökologische Erkenntnisse fehlen; und die fehlen, weil der Mensch erpicht ist, seine Vermehrung positiv zu werten (vgl. PM(125), (126)). Wir stolpern indes von einem Verfassungs-Experiment zum anderen, raffen uns an Korrekturen wie an Stangen wieder hoch, die uns neuen Mut geben, stolpern aber bald von neuem, immer in der Gefahr, auf dem Bauch liegen zu bleiben - siehe Kriege. Hält man uns dann genuine menschliche Unfähigkeit vor, verteidigen wir den Homo Sapiens mit Hinweis auf einen gottgeschenkten freien Willen. Das heißt, der Mensch behauptet unverdrossen, im Recht zu sein. Auch im Falle Krieg. Den entschuldigt er durch Veredelung der Begriffe Patriotismus und Tapferkeit. Höhepunkt war das 19./20. Jahrhundert.

Willensfreiheit dieser Art scheint nur das glückliche Empfinden der Freiheit widerzuspiegeln, inneren Motiven folgen dürfen. Motiven folgen zu dürfen, ist sicher Freiheit, doch allein schon „glückliches Empfinden“ als verführerische Kraft der Freiheit macht, absolut betrachtet, die eigentlich gemeinte Willensfreiheit zur Farce. In PM(68) ist die Motivpsychologie namens KOSMMA („Komplex störungsmotivierter multipler Ausgleich“) eingehend beschrieben. Man greife auch auf PM(189) zurück. Dort geht es um die sog. soziologische Gleichung.

II. Lösung des Problems?

Wegen des beschriebenen soziologischen Antagonismus tendiert Demokratie - d.i. die freiwillige Anerkennung der Massen und ihrer Ansprüche (PM(189)) - zur Selbstzerstörung. Demokratie muss die Kraft haben, den Individualismus zur Mäßigung zu zwingen, sonst entartet sie zur Diktatur (vgl. neben P(189) auch (125), (126)).*)

Den Individualismus gewaltfrei zur Mäßigung bewegen, das können nur die Individuum selbst auf der Grundlage von Einsicht. Die innere Dringlichkeit, mit der sich der Einzelne täglich vom anonymen, sexualfeindlichen und „Steuern“ verlangenden idealen Staat zu entfernen sucht, ist indes nicht selten in der Übermacht und ist die eigentliche die Schlappe der Weltpolitik: Die engste Annäherung an Platons Staat schaffte Karl Marx mit dem gewalttätigen Regime namens Kommunismus - die Sowjetunion scheiterte nach siebzig Jahren an der Gleichschaltung und bewegt sich seitdem mühselig stotternd in Richtung Demokratie.

Verfolgt man Analysen des sozialen Problems in den Medien, erstaunt man unter dem Eindruck, dass die biologische Analyse des idealen Staates unbekannt ist. Zumindest wird sie totgeschwiegen. Anscheinend ist sie bis heute nur in der PA definiert. Im Wesentlichen sind Religionen die Ursache der Blockade. Es ist das Glauben-Wollen, „das Sagen der Bronzezeitler“ (PM(147)), der Druck des Prinzips, das Papst Benedikt in die Worte fasste „Der Mensch hat mit der Evolution nichts zu tun“. In dieser Hinsicht sollte man Richard Dawkins Buch DER GOTTESWAHN kennen. Dawkins hat lediglich die biologische Komplexität übersehen, von der die Welt des Lebendigen die (unbewusste) Intelligenz bezieht, die gesamte Biosphäre zu ordnen. In PM(149) findet der Leser die Formel für die Komplexitätszahl K eines Organismus.

III. Das Pendel im Lauf der Geschichte

Die Geschichte der griechischen Antike - das müssen wir Heutigen unbedingt im Auge haben - ist der tiefste verfügbare Blick in die Vergangenheit Europas. Die mykenische Kultur der späten griechischen Bronzezeit (bis 1200 - x des zweiten vorchr. Jahrtausends) wurde von Monarchien gelenkt, die praktisch Diktaturen waren. Die weiter unten noch einmal erwähnte (unveröffentlichte) Abhandlung von A.Fr. R. Brück DAS UMFELD DER HERAKLESSAGE sowie PM(184), (195) zeichnen ein großformatiges Bild von einer Revolution in der späten Bronzezeit. Hier Einzelheiten.

Die extreme Unmenschlichkeit der Sklaverei, die sich in der Bronzezeit mit dem Bevölkerungswachstum herausbildete, wird wohl euphorisch aus dem Bild vom Homo Sapiens gestrichen, um diesen nicht zu diskreditieren. Neuerdings gibt es einen verdächtigen archäologischen Beleg aus der etruskischen Siedlung Fufuna. Auch die hehren Achäerkönige nützten vermutlich das Volk so erbarmungslos aus, dass die Volksmassen allmählich mit weltweiten Aufstände begannen. Lieber so zugrundegehen als in der Sklaverei.

Nicht nur Mykene wurde vernichtet. Die Rache wütete in fast allen Kulturen der damaligen westlichen Welt. Am wenigsten (vielleicht) in Phönizien. Möglicherweise rettete man dort viele versprengte Freigekommene, die aufs Meer hatten fliehen müssen, wo sie als räuberische „Seevölker“ herumstreiften, dokumentiert in ägyptischen Inschriften. Fast alles spricht dafür, dass die heutigen Palästinenser indirekte oder gar direkte Nachfahren der heimatlosen Seevölker sind. J. Fr. Champollion identifizierte sie mit den „Peleset“ der äg. Quellen, so wie die „Sekelesa“ mit den Siziliern, die „Sardana“ mit den Sardiniern.

Stimmt das, dann wären die gegenwärtigen Zustände im nahe Osten ähnlich wie die vorgriechischen Wortstämme im Altbairischen (PM(184), (196)) Zeugnisse der größten Revolution der Geschichte, die 200 Jahre fortdauerte.

Die kyklopischen Schutzmauern von Mykene, erbaut vom Vater Atreus des Oberbefehlshabers Agamemnon im Trojanischen Krieg (um 1200 v. Chr.), lassen den Beginn der Revolution bei etwa 1300 v. Chr. vermuten. A. Fr. R. Brück erarbeitete in den achtziger Jahren aus den Quellen der Altertumsforschung ein geschichtliches Bild des Herakles-Mythos und seines Umfeldes (DAS UMFELD DER HERAKLESSAGE). Herakles, der der Sage nach gegen Könige kämpfte, ist wahrscheinlich der bedeutendste Initiator des Aufstands gewesen. Er wurde, was typisch ist, zu allen späteren Zeiten verherrlicht, gefeiert und sogar heiliggesprochen. Die Sage überliefert, dass man ihn schließlich fing und im Oeta-Gebirge auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Wem wohl ist das zuzuschreiben wenn nicht den Königtreuen. Im Oeta gibt es Reste einer antiken Herakles-Gedenkstätte, die Brück 1985 besuchte. (Sie wurde eingezäunt, kurz nachdem er einen Bericht an die Universität in Athen verschickt hatte.)

Auf das Ende der bronzezeitlichen Hoch-Diktaturen folgten zwei oder drei archäologisch berühmt gewordene dunkle Jahrhunderte, ein Zeitalter des Analphabetismus. Den Befunden nach war die griechische Kultur in allen Bereichen total zerstört worden. Sie wurde nach diesen Jahrhunderten von Grund auf wieder aufgebaut. Um 800 führten die Griechen die Vokale in die phönizische Konsonantenschrift ein, vermutlich um das Versmaß der mündlich überkommenen Epen schriftlich fassen zu können (Homer), und gründeten damit eine in die Tiefe gehende Bildung, die vielen Wissenschaften heute zugrunde liegt.

Homers Epen enthalten zwei Dokumente der Revolution: mythisch verbrämt den Freiermord in der Odyssee und die Gestalt des Thersites in der Ilias.

Nach den dunkeln Jahrhunderten gab es zunächst erneut nur wieder Alleinherrschaften. Es war die Zeit der Tyrannen, allerdings nicht Tyrannen im Sinne derjenigen, die die Demokratie erschüttern; denn es gab ja keine Demokratie. Die Bevölkerung im Allgemeinen war unfähig, sich selbst zu organisieren, ähnlich wie im Griechenland nach der Befreiung von der osmanischen Diktatur 1821 (PM(193)). Die Tyrannen nach den dunklen Jahrhunderten waren zum Teil Oberhäupter, die die besten Wege in die Zukunft zu finden suchten. Es bildeten sich Adelsgeschlechter aus, Aristokraten genannt. Die Reformen des Spartaners Lykurgos (um 900), Solon (um 600) und Kleisthenes (um 500), führten schließlich zur Demokratie.

Aber ein Jahrhundert nach Kleisthenes - zu Platons Zeit - verursachte der Individualismus schon wieder zu viel Uneinigkeit. So nachhaltig, dass die Demokratie kränkelte und nach Alexander d. Gr. von der Kaiser-Diktatur der römischen Reiches geschluckt wurde. Das griechische politische Pendel war binnen eines Jahrtausends von der Diktatur zur Demokratie ausgeschlagen und von dieser wieder zurück zur Diktatur.

Die griechische Zeit nach 1821 kann man durchaus mit den einstigen dunklen Jahrhunderten vergleichen. Mit einer Portion Glück könnte die gegenwärtige Regierung Tsipras mit Hilfe des übrigen Europas für eine Perikleische Renaissance sorgen. Die Gegenwart könnte sogar - mit noch mehr Glück - das Pendel endlich einmal anhalten. Voraussetzung wäre, dass die richtungweisende naturwissenschaftliche, genauer gesagt biologische Bildung so viel Einsicht bringt, dass die heute regierenden massenweisen Verfechter bronzezeitlicher Standpunkte nicht mehr das Sagen haben. Auch müssten etablierte Wissenschaftler - hier geht es um Archäologen und Philologen - aufhören aus Sorge um überholte und vorgefasste Meinungen jede neue Erkenntnis auszugrenzen. Das ist indes kaum zu erwarten.
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*) PM(51) wurde in PM(147) integriert, ist aber da und dort noch als Quelle aufgeführt.

Portrait der Platonakademie.
Die 1995 erneuerte Platon-Akademie (PA) versteht sich als Fortsetzung und Abschluss der antiken. Sie versucht, im naturwissenschaftlich widerspruchsfreien Konsens die richtige Antwort auf die von Platon gestellten Fragen nach der Herkunft der Naturgesetze und nach der besten Gesellschaftsform zu finden. Vor allem ist sie als Internet-Akademie aktiv. Sie strebt keinen juristischen Status an (Verein etc.). Die PA wurde 529 von der Kirche aus weltanschaulicher Konkurrenz verboten.
Kontakt: Anton Franz Rüdiger Brück, geb. 1938, Staatsangehörigkeit Deutsch. Humanistisches Gymnasium. Hochschulstudien: Physik, Mathematik, Philosophie, Pädagogik. Ausgeübter Beruf: Bis 2000 Lehrer im Staatsdienst. Zuschriften bitte per Post an: s. Impressum in platonakademie.de


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