Platonakademie(200). Ethik Spezial: Wie verläuft genau die Grenze zwischen Privatsphäre und Gesellschaft? / Ohne ihre Definition wächst das ohnehin desaströse Meinungschaos weiter an / Aktuelles Beispiel: die Kriegsflüchtlinge

Platon-Akademie, 10. Februar 2016

Die Frage, wie Großgesellschaften den Individualismus (s.u.) kontrollieren sollen, wird dringlich. Zitat aus Joska Fischers Artikel „Die Unordnung der Welt“: „Ein globaler Ordnungsverlust in Politik und Wirtschaft ist nicht von der Hand zu weisen - ohne dass auch nur in Ansätzen die Konturen einer neuen Ordnung sichtbar wären“ (SZ vom 1.2.2016, S.2). Das Thema gehört zur Kritik der Hintergründe des platonischen Staatsverständnisses.

Warum letztendlich in der Unordnung der Welt nicht etwa nur ein Augenblicksphänomen sichtbar wird, sondern ein Grund-Phänomen seit Beginn der Bevölkerungsverdichtung in der Jungsteinzeit vor über 4000 Jahren*), diese Frage wurde schon in den PM(18) und (63) behandelt.

Die Ansätze, die Fischer vermisst, finden sich großenteils in der SG, der Soziologischen Gleichung (PM(189), s. auch hier unten). Mit der SG lässt sich der globale gesellschaftliche Ordnungsverlust ohne ein leidiges Rechts-Links-Pendeln und ohne Parteien-Schlammschlachten verstehen. Doch die Politik betrachtet ungern elementare Ursachen, solange die bronzezeitliche Weltanschauung führend ist (PM(147)). Es mangelt am Bedürfnis nach naturwissenschaftlicher Einsichtnahme – die Diskussionen bewegen sich daher nur im Oberflächenwasser.

Aus diesem Grund steht die europäische Politik, vorbereitet mit Schnellschüssen wie Multikulti-Vorstellungen, ratlos vor dem wachsenden Ansturm verelendeter Familien. Deren momentane Flucht vor dem Krieg hat einen charakteristischen historischen Hintergrund: Diese Kriege erwachsen nicht aus Territorialinteressen, sondern aus dem ethischen Meinungschaos innerhalb der herrschenden Religion. Der Dreißigjährige Krieg war ein Krieg um religiöse Details. Der jetzige im Nahen Osten führt uns seit 2001 eine exakte Parallele vor.

Wie aber verläuft nun die Grenze zwischen
Privatsphäre und Gesellschaft?

Sie ist die Demarkationslinie zwischen zwei Wertesystemen: dem der Privatsphäre und dem der Großgesellschaften. Der Mensch hat sich durch seine riskante überökologische Vermehrung diesen zwei Wertesystemen ausgeliefert. Sie sind inkompatibel und gefährlich, weil sie sich teilweise gegenseitig durchdringen. Ein Gutteil der Kriminalität geht auf diese Diskrepanz zurück.

Der in der Privatsphäre beheimatete Individualismus ist erkennbar an den tiefen Wurzeln seiner Bedürfnisse, die sich noch nie durch Erziehungsmaßnahmen abschalten ließen. Durst lässt sich erzieherisch nicht löschen. Bedürfnisse mit Wurzeln lassen sich verbiegen, anders gewichten oder ins Dunkel des Unterbewussten abdrängen, aber nicht abschalten. Manche reagieren auch auf juristische Zwänge nicht. Mit ihrer Konstanz bestätigen sie ihre Herkunft aus einem fest angeborenen Wertekonzept (s. den „Kosmma-Prozess“ in PM(68)).

Dieses Wertekonzept hat sich als Gesetzeskodex während vieler Millionen Jahre im Menschen festgeschrieben, als er in isolierten kleinen Gruppen aus bis zu +/- 20 Personen lebte. Das Alphabet für den Gesetzestext, den man Genom nennt, besteht allerdings aus Nukleotiden. In der Politik finden chemische Hieroglyphen keine Würdigung. Angeborenes Verhalten ernst nehmen würde die rechthaberische Autorität der Mehrheit als Steinzeitgebaren entlarven, und so viel Wissenschaft ginge entschieden zu weit.

In Kleingruppen (Privatsphären, Privatkreisen oder Familien im weiteren Sinne) gilt für den Einzugsbereich des sozialen Miteinanders die erwähnte „Soziologische Gleichung“

Tun wollen = Tun müssen.

(und umgekehrt natürlich Tun müssen = Tun wollen): Was wir von innen heraus tun wollen, müssen wir für die Stabilität der Privatsphäre auch tatsächlich tun. Wünsche und Pflichten entsprechen sich. Sie sind hierarchisch geordnet. Es gibt „Oberwerte“ und „Unterwerte“. Ein Beispiel ist der hoch motivierende Wert des persönlichen Kennens. Ihm ist unterordnet der Wert der Mitfreude am Glück persönlich Bekannter. Abermals untergeordnet die Hilfsbereitschaft. Als von innen kommendes Wollen ist die Hilfsbereitschaft gegenüber persönlich Bekannten groß, gegenüber anonymen (fremden) Personen aber, d.h. gegenüber der äußeren Gesellschaft, praktisch null. Zum Beispiel fallen wegen eines Zugunglücks in Deutschland aus Mitgefühl für die Opfer die geographisch nahen Faschingsveranstaltungen aus, während sie in Rio nicht ausfallen. Was in Deutschland geschieht, ist den Portugiesen, Dänen, Griechen usw. persönlich fremd und nebensächlich.

In der Großgesellschaft würde die SG ebenfalls gelten, wenn auch dort Wünsche und Pflichten abgestimmt wären, also beide im Genom des Menschen programmiert. Doch weil die Großgesellschaft ein historisch zu junges Gebilde ist, gibt es keine Abstimmung. Allein schon der Wert Hilfsbereitschaft bestätigt das. Die Religion hat sich schon in der Bronzezeit bemüht, durch Einführung einer unantastbaren göttlichen Autorität die Hilfsbereitschaft vom Himmel herab durchzusetzen, doch sie scheiterte, weil sie angesichts ihrer Zersplitterung unglaubwürdig blieb. Sie zettelte Kriege an statt den gepredigten Frieden zu erreichen.

Das Christentum hat nicht einmal Erfolg gehabt mit der Idee, eine göttliche Familie ans Firmament zu setzen, eine vorbildhafte Privatsphäre, um die angeborenen Kleingruppenwerte auch in der Masse zu aktivieren. Der Erfolg blieb aus. Das christliche Abendland ist nicht bereit, die Flüchtlingsströme mit finanziellen Mitteln zu entkräften, obwohl es leicht könnte und das sogar beschließt. Dass die christlich eingeführte Nächstenliebe nur unter Appellen und Geboten ansatzweise funktioniert und dann doch versagt, beweist präzise, dass Nächstenliebe keine echte Liebe von innen heraus ist, vergleichbar der geschlechtlich begründeten erotischen.

Die Religionen haben daher, um die nun einmal nicht wegzudenkenden Massen lebensfähig zu erhalten, die geschlechtliche, den ganzen Privatbereich strukturierende Liebe abzuschaffen versucht, natürlich ebenfalls völlig vergeblich, nachdem diese ja im Genom geschrieben steht (im einzelnen s. PM(199)).

Wer mehr Beispiele heranziehen will, betrachte etwa Handel und Industrie, die sich im Gesellschaftsraum abspielen. Dort herrscht ein nur indirektes Interesse am Glück der einzelnen Menschen. Sicher, man soll die Autos kaufen, die die Industrie produziert und die man fürs persönliche Glücksgefühl haben will. Zum Anreiz werden Abgasgrenzen versprochen. Aber Ermittlungen ergaben, dass das da und dort nur zum Schein geschehen ist. Hintenherum wurden die Normen nicht genau genommen, offenbar um die Gewinne aufzuwerten.

In der Lebensmittelbranche hört man gelegentlich, wenn auch unter vorgehaltener Hand, das neue Sprichwort: „Handel ist Schwindel“. Tatsächlich versuchte schon in der Nomadenzeit der Handel, seine Waren besser anzupreisen als sie sind. Ein afrikanischer Händler prahlte einmal mit der Größe seines Gewürzladens, in dem 20 000 Gewürze zu haben seien. Womöglich pries er damit die Zahl der Körner an. Das ist die übliche Einstellung der Gesellschaft zur Privatsphäre. Erst (und nur) unter öffentlich stattfindenden Kontrollen, oder wo aus einem Fremden ein namentlich Bekannter wird oder gar Freund, hat Hilfsbereitschaft Ansehen. Dann verkauft man ungern vergiftetes landwirtschaftliches Erzeugnis, sondern bietet Bioware an.

Dass Nächstenliebe und damit auch Ehrlichkeit zwischen den einzelnen, getrennten Privatbereichen in der Masse schwer bis gar nicht durchsetzbar ist, zeigt gegenwärtig das Verhalten der EU-Länder zu den persönlichen Schicksalen der Kriegsflüchtlinge: Die Motive, das Elend Namenloser zu erleichtern, sind so schwach, dass nicht einmal die nötigen Hilfsgelder sich flüssig machen lassen. Und die Religion, von ihren inneren Zerwürfnissen gebrandmarkt, überzeugt auf diesem Sektor längst nicht mehr.

Die Grenze des Privatbereichs spürt man, wo man das was man tun muss nicht eigentlich von innen heraus tun möchte: Steuer zahlen, Fahrkarte lösen, rote Ampel beachten, an Kreuzungen blinken, Geschwindigkeit einhalten, fremdes Eigentum nicht beschädigen usw.

Warum indes der Einzelne außerhalb seines Persönlichkeitsbereichs das, was er dort tun muss, sogar unfreiwillig tut, wurde in PM(63) erläutert: Die Gesellschaft würde, wäre dort nur sein inneres Wollen maßgebend, lahmgelegt. Die ganze Wirtschaft bräche zusammen. Von ihr aber ist seine Kultur abhängig. Woher bekäme er aber dann noch Tempotaschentücher oder Aspirin oder Autos oder Bekleidung, Wasser, Strom, Heizungsanlagen, Kommunikation? Seiner Privatsphäre wäre in diesem Chaos der totale Untergang gewiss. Deshalb ist der Vorrang des Müssens, obwohl gegen manche angeborenen Motive, ein zu praktizierender Akt der Vernunft, des Denkens.

Erziehung kann diese unfreiwillige Künstlichkeit schlecht und recht durch Umgewichtung im System der vielen Motive leisten, doch wie in Artikel (68) genau erläutert bedeutet das u. U. psychische Störungen. Wir wissen das seit Freud. Die Verdrängung angeborener Motive geht auf die Gesundheit, bis hin zu Neurosen. So brechen Menschen sehr häufig ins Milieu der Kriminalität aus, um ihre persönlichen Motive zu erfüllen. Eigentlich müsste man diesen sogenannten Verbrechern, statt sie mittelalterlich gefühllos mit Gefängnis zu demütigen (wodurch sie erst recht Feinde der Gesellschaft werden), eine psychiatrische Behandlung ermöglichen. Da diese genau das vermitteln müsste, was hier gesagt wird, darf auf eine solche Lösung nicht gehofft werden. Am Ende stehen wir vor der Tatsache, dass die Justiz von Grund auf revidiert werden müsste.

Man bedenke im Übrigen, dass bereits 1972 Max Liedtke das eindeutig nicht in die Bronzezeit-Philosophie passende Buch „Evolution und Erziehung“ veröffentlichte, aus dem diese Zusammenhänge zu ersehen wären.

Massengesellschaften, die auf der
Soziologischen Gleichung basieren, gibt es

In den Großstaaten der Ameisen und Termiten gilt ganz anders als erwartet eine SG der Großgesellschaft mit Gleichheitszeichen (PM(18)). Die massengesellschaftlichen Verhaltensmotive sind solchen Insekten also angeboren. Müssen = Wollen gilt für den Millionenstaat ausnahmslos, weil es gar keine Privatsphäre gibt, und auch keine Sexualität (nur noch das Königspaar besitzt sie). Zur Unterscheidung von der humanen „SGM“, die ein Ungleichheitszeichen enthält, mag man die SG des Termiten-Staates mit „SGT“ abkürzen.

So ist die SG(T) kein Problem für die „Bürger“ solcher Staaten. Termiten tragen bildhaft gesprochen jeden Euro freiwillig zum Finanzamt, sie haben eine unbedingte Lust darauf. Die einzelne Termite ist in ihrer Gesellschaft anonym, es kann also keine Freundschaften und keine Interessensverbände geben. Die Bürger erkennen sich gegenseitig ausschließlich am einheitlichen Geruch ihres Staates. Dieser Geruch ist sozusagen die Nummer ihres Staatsangehörigkeitsausweises, während in unserem „Personal“ausweis die Passnummer nur ein Zusatz zum Foto der Person ist.

Die Intelligenz der Natur, getragen vom biosphärischen Netz aller Genome, hat bisher allein für die staatenbildenden Insekten binnen ca. 100 Millionen Jahren die SGT entwickelt. Die Natur fängt mit einer SGT momentan allerdings auch bereits bei in kleinen Massen lebenden Säugetieren an, nämlich den Nacktmullen. In ferner Zukunft dürfte den heute individualistisch geprägten Menschen – egal wo in den Unendlichen Ordnungen (PM(198)) – dasselbe erwarten. Falls er immerfort in Massen lebt, wird er einmal keine Libido mehr kennen. Werden wir dann unsere Artgenossen nur noch so hässlich finden wie die Nacktmulle? Gibt es dann noch Schönheit?

Vermeiden lässt sich dieses bedenkliche Stadium nur, wenn es gelingt an den humanen Wertesystemen einiges genetisch so zu ändern, dass Kompatibilität zwischen den Genomen aller Arten gewahrt ist.

Schlussbemerkungen

Zum Schluss ist nochmal zentral hervorzuheben, dass im heute realen menschlichen Staat unlösbare Problem dadurch entstehen, dass unsere Politiker selbst Einzelne sind und nach ihren privaten Interessen leben (wollen). Korruption etwa ist ein typisches Problem, das man erst dann versteht, wenn man die Grenze zwischen Privatsphäre und Gesellschaft beachtet.

Was schließlich jeder Politiker erfahren müsste: Beretis Platon hat die SGT bemerkt. Sein „idealer Staat“, aus der Intuition erschlossen, ähnelt so weit als möglich dem Termitenstaat. Er hat dabei von der Intelligenz der Natur und von der Millionen Jahre durchhaltenden Geduld der Evolution nichts gewusst, sonst hätte er es gesagt und es wäre in den 2 500 Jahren seit damals doch wohl bekannt geworden. Dann wäre das Meinungschaos in den Diskussionen um die Ordnung der Welt nie entstanden.
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*) Vgl. Harald Haarmann, Das Rätsel der Donauzivilisation, Beck 2011

Portrait der Platonakademie.
Die 1995 erneuerte Platon-Akademie (PA) versteht sich als Fortsetzung und Abschluss der antiken. Sie versucht, im naturwissenschaftlich widerspruchsfreien Konsens die richtige Antwort auf die von Platon gestellten Fragen nach der Herkunft der Naturgesetze und nach der besten Gesellschaftsform zu finden. Vor allem ist sie als Internet-Akademie aktiv. Sie strebt keinen juristischen Status an (Verein etc.). Die PA wurde 529 von der Kirche aus weltanschaulicher Konkurrenz verboten.
Kontakt: Anton Franz Rüdiger Brück, geb. 1938, Staatsangehörigkeit Deutsch. Humanistisches Gymnasium. Hochschulstudien: Physik, Mathematik, Philosophie, Pädagogik. Ausgeübter Beruf: Bis 2000 Lehrer im Staatsdienst. Zuschriften bitte per Post an: s. Impressum in platonakademie.de


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