Platon-Akademie
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Zur PressemappeZu Oberst auf der Themen-Rangliste steht bei konservativen Christen die Ächtung der Geschlechtlichkeit des Menschen. M. Drobinski in der Süddeutschen am 19.10.2015, S. 4: „Sexualität und Lust gehören zum Menschen; wer ihn als Geschöpf Gottes begreift, muss auch Lust und Sexualität als Gabe Gottes sehen, nicht nur als notwendiges Übel – und nicht nur innerhalb eines Käfigs, wo man dieses wilde Tier für einigermaßen gebändigt hält.“
Auch wenn so mancher das leidig nach vorn drängende Thema aus Abscheu am liebsten ignoriert – die Einstellung Roms gegen die Freiheit privater Beziehungen bringt es ins Licht der Öffentlichkeit. Die Unterdrückung einer Kultivierung der Zweigeschlechtlichkeit, m.a.W. der Schaffung einer (ästhetischen) Erotik, ging – wie so vieles in der Politik – von fehlendem Wissen über die Natur des Menschen aus. Der heutige Widerstand ist tief verankert in der Bronzezeit, als es erstmals zu folgenschweren Bevölkerungsverdichtungen kam mit dem Programm „macht euch die Erde untertan“. Mit „Erde“ war die Natur gemeint, die menschliche unbewusst eingeschlossen, und die Zweigeschlechtlichkeit im Mittelpunkt.
1. Das Auftreten Moses
Kleine Verwandtschaftsgruppen, aus paläontologischen Zeiten genetisch aufs Privatleben programmiert, mussten sich plötzlich in Massenstädten zusammendrängen. Die uralte Veranlagung, zwischen Freunden und Fremden zu unterscheiden, ergab in der Massenkonzentration auch ein Konzentrat der Konflikte. Aus relativ harmlosem Flunkern wurde unversöhnliche Lüge, aus Rangelei um den größeren Brocken wurde Diebstahl, aus lebenschonendem Kräftemessen Totschlag. Hatte der Kodex der menschlichen Natur als Maßnahme gegen die Inzucht einst das Entführen fern wohnender Frauen einbezogen, so trat an diese Stelle jetzt der Seitensprung. Sieht er für den Verfechter freier Liebe auf den ersten Blick harmlos aus, so führt er dennoch oft zu bitterer Feindschaft. Denn Bildungsmangel (verursacht durch das biblische Verbot der Erkenntnis) bedingt bösartige Eifersucht, während gutartige Eifersucht auf der Strecke bleibt.
Die Tragik der damaligen Umbrüche ist noch Kern mancher Mythen. An die sozialen Unruhen in den Massenballungen erinnern Sodom und Gomorra. Der erbitterte Krieg aller Griechen um Troja wurde – die Übertreibung ist nicht verwunderlich – ausgelöst durch die Entführung einer Frau. In die Kategorie gehört wohl auch der Raub der Sabinerinnen, der zwar in die Zeit Roms verpflanzt wurde, wahrscheinlich aber viel ältere Raubgeschichten lebendig hält (vgl. Ähnliches in der Laurin-Legende in PM(184)).
Soziale Ordnung unter Nachbarn zu wahren, die sich fremd blieben – und fremd blieben sich natürlich die meisten – war zu Anfang Aufgabe blutrünstiger Diktatoren. Nur mit Grausamkeit und Hinrichtungen war etwas zu erreichen. Da entwickelte eines Tages ein ungewöhnlicher, wahrscheinlich alter Mann ein weises Programm. Seinen Namen Mose kennen wir. Er wollte, wie „seine“ Schriften im Einzelnen belegen, die Gewaltmaßnahmen durch Umerziehung ersetzen und gewann sich große Gefolgschaft, denn die optimistische Verheißung von Frieden überstrahlte das Fremdheitsgebaren.
Die Menschen umzuerziehen gestaltete sich aber schwierig, denn im Wege stand das menschliche Genom. Mose wählte daher fürs Nachdenken, das sich auf Meditation beschränken musste, einen abgeschiedenen Ort, einen Berggipfel, weil ihm dorthin das neugierige Volk nicht nachfolgen konnte. Allein mit sich in der Kälte des sternenvollen Wüstenhimmels, an einem Lagerfeuer aus Dornengestrüpp, sah er den Funken zu, wie sie sich zwischen die Sterne des Firmamentes mischten, und auf Weisheit sinnend erbat er sich Rat von dieser unbegreiflichen, grandiosen Welt da oben. Tatsächlich vernahm er im Bewusstsein eine Stimme, wie von einem sprechenden Gott: „Nimm mich als Autorität und gib dem Volk Gesetze gegen Lüge, Diebstahl, Mord und die verkehrte Liebe!“
Der Ratschlag war so schnell angenommen wie ausgesprochen. Belehrt durch vielgestaltige Unruhen, erkannte Mose die einzig wahre Liebe in der altruistischen Nächstenliebe, die verkehrte aber in der sexuellen Liebe. Er riss aus dem Standardwerk der Naturgesetze die Seiten mit dem Titel „Freie Liebe“ heraus, und seine Lehre krönte Mose mit dem Satz: „Wenn du vom Baum der Erkenntnis essest, wirst du des Todes sterben.“
Also frag nicht nach! Schluss mit all dem Nachdenken!
Erstaunt, dass sich das Pergament beim besten Willen nicht zerknüllen ließ, schleuderte er den Stapel kurzerhand in die Flammen. Eine Funkenwolke wirbelte und vergrößerte die Pracht des Himmels. Doch am Ende lag das Pergament unversengt in der Asche. Mose sah das nicht, er war zu früh gegangen, er verließ den Sinai und zog zwischen Volk und Eros eine Felsenmauer hoch. Niemals mehr sollte jemand die Größe dieses wortgewaltigen Gottes vernachlässigen, schon gar nicht mehr in Gedanken an eine Frau. Und der Mensch sollte seine aufreizenden Schönheiten vor aller Welt verhüllen.
Obwohl das alles in der Bibel so drinsteht, half gegen die Lust auf Paarung nie ein Gebet, gegen ihre Werte kein Dogma, gegen ihre Freiheit keine Mauer. Das steinerne Werk war vollendet, da malten bereits die ersten Künstler wieder die Liebesgöttin an die Wände, Prostituierte buddelten drunter durch, während Gewalttäter Breschen schlugen und Verliebte einfach Leitern holten und oben drüber stiegen. Am Himmel glänzte dabei der Morgenstern der Liebesgöttin.
Der Abbruch der Mauer nahm seinen Anfang. Jedoch die Trümmerhaufen und die Worte des strafenden Gottes hatten verwirrt und verstört. Vieles wurde in der Bronzezeit kultiviert, aber nicht mehr die Sexualität, denn keiner begriff seitdem so recht, was geschehen war.
Die Erfahrung, dass sich die Menschheit nicht nach dem Vorbild der geschlechtslosen Ameisen durchnummerieren lässt, hängt seither wie das Damoklesschwert über den Doktrinen religiöser Erziehung. Wenn heutzutage die Menschenmassen auch den Lehren des Kommunismus nicht folgen wollen, der der Ordnung der Massen dienen soll, haben wir erneut das Debakel der Umerziehung, das Mose erfahren musste (vgl. dazu PM(18)).
2. Platon
Tausend Jahre waren vergangen. Massenstädte hatten das Bild der Länder übersät. Der ideale Staat, in dem Nächstenliebe dominieren muss (vgl. PM(63)), wartete noch immer auf seine problemlose Verwirklichung. Inzwischen war in Europa, fern von Moses Heimat, die Philosophie entstanden, der Versuch, das Absolute denkend zu finden statt vorzuschreiben wie in frühen Zeiten. Diese Befreiung der Wissenschaft vom Glaubensdiktat hat im christlichen Europa den – religiös üblichen – allergrausamsten Widerstand heraufbeschworen. Die Veröffentlichung der diesbezüglichen (heute weithin unbekannten) Ereignisse würden die religiösen Institutionen der Gegenwart schwer belasten, die wohl nicht überleben würden, und man tut gut daran, die Wiederaufarbeitung gar nicht erst zu provozieren.
Der heute als bedeutendster europäischer Philosoph anerkannte Athener Platon machte die Erkenntnis zum höchsten Gut des menschlichen Daseins. Nachdem er seine Gedanken zur Dominanz der Nächstenliebe in seinem Werk „Der Staat“ durchexerziert hatte, erfolglos, wie man weiß, wählte er als Prinzip der Erkenntnis den Eros, den uralten Gott des Kosmos. Der Eros war in prähistorischer Zeit eine nicht mehr klar rekonstruierbare aber allumfassende Göttergestalt gewesen, allwissend mit dem Kosmos verwoben. Vermutlich steckt in dem Namen die prä-indoeuropäische, bis sechs- oder zehntausend Jahre alte Silbe „er“. Sie ist erhalten u.a. in türkisch er = Mann = lateinisch vir. Auch die Iren wie die Arier („Iran“) sind vermutlich nur einfach „die Männer“.
Als Urprinzip von allem, zuvorderst natürlich das der Erzeugung von Leben, war der Eros so bedeutend, dass, wie gesagt, heute noch die Liebesgöttin Venus als Morgen- und Abendstern heller leuchtet als alle Sterne der Mythologie. Möglicherweise kannte Mose diesen einen(!) Gott, wenn auch unter anderem Namen, und machte ihn zum Modell. Nur verbot er, anders als Platon, dem Menschen das Nachdenken über Gut und Böse. Ausgerechnet ihm, dem „Ebenbild des Gottes“. Denn Erkenntnis hätte das Wunder der Zeugung angestrahlt.
Nachrichten aus sehr früher Zeit über feierliche Zeugungs- und Paarungskulte blieben bis in historische Zeit bekannt als orientalische Tempeldienste zu Ehren der Liebesgöttin, orphische und dionysische Kulte und wahrscheinlich auch als eleusinischen Mysterien. Der Geheimhaltung unterlagen sie mehr und mehr wegen der Ansprüche der Massengesellschaft, bis sie schließlich überhaupt abgeschafft wurden. Was man heute darüber liest, ist oft gefärbt und entstellt, um das Ansehen des biblischen Monotheismus nicht zu schmälern.
Platon vermutete nun ganz zutreffend in der kosmischen Ordnung ein Bild des Reichs der Ideen, des nur geistig Erfassbaren, Ewigen und Unwandelbaren, das die TFZ ja in den sich selbst verursachenden Unendlichen Ordnungen rational nachweist (PM(7) ff). So ist Platon konsequent, wenn er den Eros zum Gott der Erkenntnis wählt. Im „Gastmahl“ wird nicht über den Eros diskutiert, die Gäste tragen nur ihre Aspekte über ihn vor.
Auf die Geschlechtlichkeit und Zeugungssehnsucht als Teil der Welterkenntnis nimmt im „Gastmahl“ Sokrates Bezug. Er gibt wieder, was er von der Priesterin Diótima („Achtung Gottes“) aus Mantinéa gehört hat.
Das Absolute, das Reich der Ideen, ist nach Platon im Diesseits nicht zur Vollkommenheit und Ewigkeit abgebildet, auch die menschliche Erkenntnis nicht, sie ist nur der Weg zum absolut Guten, Schönen und Wahren. Den Weg zum absolut Schönen geht nach Diótima zum Beispiel das Paar bei der Zeugung neuen Lebens, denn die „Seele“ des Lebens ist unsterblich und hat deshalb mit dem Ideenreich zu tun (vgl. dazu PM(198)).
So sind Liebesgefühl und Liebesspiel nach Platon als Kultivierung der sonst kunstlosen Sexualität zu verstehen: als „Erotik“. Diótima erklärt laut Sokrates und somit laut Platon in einer jener eleganten aber schwierig aufgebauten griechischen Textstellen, dass „dem Strotzenden und dick Geschwellten (offenbar Zeugungsglied) in der Nähe des Schönen (perì tò kalón) viel Leidenschaft entsteht, weil diese den umarmenden Mann (helónta) von der großen ‚Zeugungs‚wehe‘ (megáles odínos) erlöst.“*) odínos ist der Genitiv von odís, was gemeinhin eigentlich Geburtswehe heißt. Im Zusammenhang kann odís aber nur „Gefühlswehe des Samenausstoßes“ meinen; denn im vorangehenden, einleitenden Satz heißt es in der Übersetzung von Boll/Buchwald a.a.O: „Wenn sich das von Samen Geschwellte dem Schönen nähert, wird es froh und zerfließt vor Lust und pflanzt sich durch die Zeugung fort . . .“
Hier vergeistigt die Paarungslust selbst die Geschlechtlichkeit, indem sie Sehnsucht nach Erkenntnis der absoluten Schönheit ist. Sie lässt das Paar die absolute Schönheit fühlen, ahnen. Erotische Liebe ist also nicht etwa eine von Lust gereinigte Geistigkeit, wie Moralisten es herauslesen wollen. Tatsache ist es leider, dass allzu viele froh sind, wenn ekelerregende Pornographie die Erotik bestimmen will, denn diese verleidet die Achtung vor dem Erahnen des Absoluten.
Deshalb ist unästhetische Darstellung der Sexualität – wo ernsthafte Liebesgefühle und die Herausstellung der Freuden fehlen – aus dem Begriff Erotik unbedingt auszunehmen. Die Großartigkeit der platonischen Argumente wird wahrscheinlich kein Mensch jemals überbieten. Aber die auf Mose zurückgehende Tradition setzte sich gegen Platon durch. Dem konservativen Christen ist unter den philosophischen Weisheiten am liebsten das Wort des Sokrates „Ich weiß dass ich nichts weiß“.
Verächtliches Christentum wird nicht überleben. Es muss aufpassen, dass ihm nicht wegen seiner Anfeindung der Erotik auch andere Ziele aus der Hand gleiten. Der bibeltreue Christ (er wird außer von den Sektierern heute meist nur noch vertreten durch Kurienkardinäle) ersetzt Lebensfreude durch Buße-Tun und lehnt die Berücksichtigung der menschlichen Natur aus Angst vor dem mosaischen Gott ab. Er sieht es als seine Aufgabe, von der bronzezeitlichen Religion sowohl das Teufelszeug der griechischen Erkenntnissuche fernzuhalten als auch die Tradition zu beschützen vor der griechischen Kunst, die der Welt die Liebesgöttin nackt vorführt. Nicht von ungefähr dürften manchen griechischen Skulpturen Köpfe und Nasen fehlen: Es sieht so aus als schlugen Radikale ihnen mit dem Hammer ins Gesicht.
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*) Der griechische Text ist aus „Symposion“ (Tusculum 1969) S. 97 entnommen.