Platonakademie(192). Schwärmerischer Nationalstolz hat die Syriza zum „Fangmich!“-Spielen verführt / Das perfekte Ende der Krise bestünde in einem Volksentscheid, der sich für die Kopie . . . / (Präzisierungen am 7.7.2015)

Platon-Akademie, 21. Juni 2015

Ab 1800 etwa verlor der griechische Nationalstolz das Augenmaß. Da er jedoch ganz und gar begründet ist, könnte gerade Augenmaß aus Griechenland wieder jenen Staat machen, dessen einstige Vorgaben für alle Welt beispielhaft wurden. Doch das Land leidet unter zwei riesigen Lücken in seiner kollektiven politischen Lerngeschichte, von denen es sich noch nicht erholt hat. Sie wirken sich momentan in dem Unvermögen aus, mit den Erfordernissen der Gegenwart zurecht zu kommen.

Für die griechische Gegenwart ist Ursachenforschung somit kein Luxus. Eines der Hindernisse für die Erholung ist unser aufs Pragmatische zugespitztes Bildungssystem. Es hat die sog. humanistische Bildung weitestgehend gegen spezialisierte Ausbildung vertauscht und ein wegwerferisches „ach was, die Antike!“ ausgesät. So laufen die europäischen Völker Gefahr, die Griechenlandkrise nur halb zu durchschauen.

Je enger die EU die Krise aber nur nach den letzten Jahrzehnten bemisst, nach dem unmittelbar Spürbaren, desto größere Ratlosigkeit entsteht.

Was in der griechischen Antike an geistigen Grundlagen Europas zustande kam, ist mit Pauschalbegriffen wie „unglaublich“, „erstklassig“ allein nicht zu vermitteln. Will jemand neu einsteigen um die antike kreative Epoche genau kennen zu lernen, muss er ganze Bücherzeilen leerlesen. Er würde den letzten Band mit einem „máiomai“ (PM(184)) zuklappen. Doch dürfte sich durch die Analyse des kollektiven politischen Lerndefizits auch mit weniger Worten zumindest ein Gefühl für das Phänomen anregen lassen: Das Volk erlitt nach seiner berühmten Zeit zwei gewissermaßen barbarische KO-Schläge.

I. Die Rückschläge

Als Griechenlands berühmter Ideenreichtum nach 2000jährigem Koma wieder erwachte, hatte sich die Welt inzwischen längst an dem Land vorbei entwickelt und unter den Griechen brach mangels politischer Erfahrung die bis heut spürbare Unsicherheit aus. Sie suchen den überzeugenden Zugang zu Reformen und Korrekturen, finden ihn aber nicht, während anderseits der Nationalstolz einen verwilderten Eindruck macht. Und falls sie in Wirklichkeit vom Zugang doch etwas wüssten und ihn nur nicht offenlegten, wäre gerade dies dann die Unsicherheit.

Der erste Rückschlag
folgte auf die Vereinnahmung durch Rom nach der Alexander-Zeit. Rom war bereits ein Staat, dessen Zügel nicht von Weltanalyse und Kunst gehalten wurden, sondern von engstirnigem Machtgerangel und naivem Eroberungsdenken. Es ging um die Transzendenz des absolut Schönen und Guten und das Wissen, dass man nichts weiß. Der römische Feldherr Sulla ließ in Athen die Akademie gleich mal einebnen.

Das eingeprägte Bedürfnis der Griechen nach geistiger Freizügigkeit, nach dem Ernstnehmen der Ideen Einzelner (zum Individualismus vgl. PM(67)) hatte um 500 vor Chr. die griechische Tyrannenzeit beendet und die Anfänge der Demokratie eingeleitet. Kaum schwebte später dann auch einer wachsenden Partei in Rom die „res publica“ vor, unterwarfen die Mächtigen sie genau umgekehrt wieder dem archaischen Patriarchaldenken: jetzt Kaisertum genannt. Dieses verschwand nicht etwa wieder durch Nachdenken über das beste Staatssystem, sondern aufgrund der maßlosen Aufblähung der Reichsgrenzen, also des Misserfolgs: Im ersten Jahrtausend unserer Zeit zerfiel Rom zuerst in zwei Teile, einen westlichen um die Stadt, die heute noch Rom heißt, und einen östlichen um das alte Byzanz (später Konstantinopel, heute Istanbul). Das weströmische Kaisertum degenerierte gegen 500 nach Chr. Das östliche, Griechisch sprechende, bestand noch fort. Den kümmerlichen Rest der großen Errungenschaften der Antike legte schließlich die Erbin Westroms, die katholische Kirche, in die eisernen Fesseln ihres missionarischen Dogmatismus. Die griechischen Philosophen hatten ihr hellsichtiges Weltverständnis nicht genügend unter Beweis stellen können. Im Bewusstsein überlebte allerdings die griechische Volkssprache.

Die Römer hatten den Griechen eine Absage erteilt, buchstäblich aus Verachtung eines Niveaus, welches das billigste aller politischen Motive, den territorialem Annexionismus, überflügelt.

Der zweite Rückschlag
kündigte sich an, als Ostrom in den Ansturm umwohnender Völker geriet. Die Dynastie der Osmanen, die 1453 Konstantinópolis gewaltsam übernahm und den Namen der Stadt auf „Istanbul“ vereinfachte, sicherte ihre Macht über griechisches Land durch den Einsatz sultanhöriger Provinzstadthaltern. Unter ihnen hatten die Griechen, wie schon zur Römerzeit, weiterhin kein politisches Mitspracherecht und durften natürlich auch keine eigenständig organisierte Gesellschaftsordnung entwickeln. Über 350 weitere Jahre hinweg blieb ihre Kreativität gelähmt. Die Osmanen duldeten lediglich (und das war freilich ein nobler Zug für solche Eroberer) das Fortbestehen der griechischen Kirche mit Sitz in Istanbul. In Klöstern überdauerten den Schlaf dadurch sogar die altgriechischen Texte, die deshalb heute noch der Athener auf der Straße versteht, auch weil sie von der neugriechischen Volkssprache nicht so weit verschieden ist wie z. B. das Italienische vom Latein. Als aber einmal der Renaissance-Gelehrte Philipp Melanchthon, der sich nach 1453 in Italien um die akademische Wiederbelebung des Altgriechischen bemühte, an den Patriarchen von Konstantinopel schrieb, ob denn Athen noch existiere, kam von dort die Antwort, ja, es gebe vom alten Athen noch Ruinen.

II. Das Ende des Komas

Rund 2000 Jahre nach der Zerschlagung durch die römische Macht, so um 1800 und schon vorher, äußerte sich nach und nach unter den Griechen wieder das selbständige politische Denken. Es war der Drang, sich gegen die Osmanen zu erheben. Die soeben vorangegangenen europäischen Jahrhunderte der Scholastik und Renaissance hatten nämlich mit ihrem unerwarteten Rückgriff auf die griechische Antike einen gewaltigen humanistischen Bildungsaufschwung losgetreten. Im Europa nördlich der Linie Pyrenäen – Alpen – Kaukasus zog die Erinnerung an die griechische Vergangenheit ein. Es war die Zeit, in der auch Konstantinopel fiel.

Die Nachrichten von einer breit angelegten Beachtung der Antike im Norden erreichten bald die oberen Schichten der Griechen, die ja durch die Klöster noch halbwegs etwas von der klassischen Zeit ahnten. Die Kritik an der Herrschaft der Osmanen wurde lawinenartig und war nicht aufzuhalten. Die Erhebung musste folgen. Den Anfang machte 1821 ein nur kleiner, völlig machtloser Haufe Freiwilliger um Alexander Ypsilántis aus dem Kreise der sog. Phanarióten, der geduldeten griechischen Klasse in und um Istanbul. Als sich der Aufstand ausweitete, erhielt er militärische Unterstützung von England, Frankreich und Russland. 1827 vernichtete ein britisch-französisch-russischer Flottenverband (ohne griechische Beteiligung) die in der Bucht von Navarino versammelte türkische Flotte. Das massive Zuhilfeeilen Europas war so durchschlagend, dass es das Ende der Osmanenherrschaft über Griechenland einleitete. 1831 unterzeichnete der Sultan die Unabhängigkeit Griechenlands.

Damit stand das Land unmittelbar vor der Aufgabe, nach 2000 Jahren politisch toten Untertanendaseins eigenständig eine neue, flächendeckende Verwaltung aus dem Boden zu stampfen. Im Ganzen gesehen ging es in allen Sparten um verbindliche Gesetze. Die Aufgabe überforderte führende Persönlichkeiten total. Sie waren in der Situation eines Führerscheinbesitzers, der Jahrzehnte lang nicht mehr am Steuer saß während der Verkehr mit all seinen Regeln rasant zunahm. Er muss sich entschließen, das Fahren mit tausend Wenns und Abers neu zu versuchen.

Was die Griechen damals blockierte: die Herstellung eines Konsenses unter den aufkeimenden Ideen. Die Interessenunterschiede zwischen einzelnen herausragenden Familien hier und Bauern bzw. Ziegenhirten dort überschwemmten die in einen Topf geschüttete Gesellschaft. Dabei wurde 1831 gleich mal der erste Ministerpräsident, Ioannis Kapodístrias, von einer Gegenpartei ermordet.

Daraufhin schickte, gebeten von den Siegermächten, der König Ludwig I. von Bayern 1932 seinen Sohn Otto als König nach Athen. Otto I. wurde in Nauplia, der damaligen Hauptstadt (das gehört eigentlich auf die Fahne der Syriza gedruckt) mit Jubel als der unparteiische Erneuerer begrüßt. Bald ging er daran, Athen wieder aufzubauen und machte es wieder zur Hautstadt. Die geradlinigen Straßen und Plätze, die wir heute dort im Innenbereich sehen, sind seine Spuren. Der Syntagma-Platz mit dem Parlamentsgebäude (damals das Königsschloss) stammt aus seiner Hand, ebenso die Universität, die bereits 5 Jahre nach seinem Amtsantritt eröffnet wurde. Mit der Planung des Archäologischen Nationalmuseums wurde begonnen, allerdings wurde es teuer und wurde erst nach Ottos Zeit eingeweiht. Daneben gab Otto landesweit vielen Ortschaften ihre altgriechischen Namen zurück. Und er richtete natürlich die nunmehr nötigen Ministerien ein und begann mit der Gesetzgebung.

Das alles drückte die zutiefst empfundene Anerkennung des griechischen Volkes aus und reiche Griechen förderten durch Finanzierung manches Projekt. Sein ebenfalls erfolgreiche Nachfolder Georg I. von Griechenland fand ein vorbereitetes Land vor.

Aber Otto gehörte nun einmal noch zu jenen konservativen Monarchen, die absolutistisch dachten. Er strebte anfangs keine parlamentarische Verfassung an, die das Volk an der Politik beteiligte (zwischen 1821 und 1829 hatte es bereits drei Verfassungen gegeben, und sogar Kapodístrias hatte die letzte meist ignoriert.) Genau diese Haltung Ottos erregte in der euphorisch aufkochenden Gesellschaft Misstrauen. Erst 1844 stimmte er auf Druck zu. Zwar hätten die Griechen über sein Zögern hinwegsehen können. Die Situation war jedoch inzwischen unduldsamer geworden und die Stimmung glich dem unerfreulichen gegenwärtigen Zerwürfnis. Otto musste 1862 zurücktreten.

Das Auffälligste am Werdegang des griechischen Staates war die ständige Änderung der Verfassung. Eine Verfassung, die laufend wesentlich geändert wird, ist nicht überzeugend und beruhigt nicht. Das vor allem zeichnet das Schicksal Griechenlands nach. Erst 1973/74 war Schluss mit Monarchie und Diktatur. Doch in der folgenden demokratischen Phase herrschte weiterhin Unsicherheit. Im Artikel 107 der jetzigen Verfassung(!) ist festgelegt, dass Reeder ihre Gewinne nicht versteuern müssen. Was daraus wurde, erleben wir jetzt. Einzig ein Gefühl hält sich: dass ein Europa ohne Griechenland einer Kirsche ohne Kern gleicht, die geschluckt werden kann sobald wieder Mächte im primitiven Stil nach neuen Territorien ausschauen.

III. Griechenland und Deutschland im Vergleich

Die deutsche Geschichte der letzten 2000 Jahre war, in krassem Gegensatz, eine Kette politischer Experimente und Lernabschnitte, die nie unterbrochen wurde. Wir könnten die Schlacht im Teutoburger Wald als Zeitpunkt Null ansetzen. Es gab kein Vakuum, das die deutschen Stämme isoliert hätte. Dieses lückenlose „Studium“ aller denkbaren politischen Erfolge und Rückschläge macht sich seit dem 2. Weltkrieg mit sozialer und wirtschaftlicher Stabilität bezahlt.

Zu den bedeutenden Experimentatoren in der Kausalkette gehören der Gote Theoderich und dann vor 1200 Jahren Karl der Gr. sowie nach ihm die Kaiser der Salier, Staufer bis hinauf zu dem Zeitpunkt, als die Französische Revolution alle monarchistischen Ideen für gescheitert erklärte. Angesichts der zerrissenen zwei Jahrtausende, in denen die bestmögliche Version wie im Intervallschachtelungsverfahren eingekreist wurde, gibt es keinen Anlass mehr zu übertriebenem Stolz und Dünkel.

Das Konzept des Parlamentarismus fand in Deutschland 1949 festgestampften Boden vor. Die Idee hing nicht in der Luft wie die Trauben des Tántalos.

IV. Die Krise an der
Schwelle der Entscheidung

Welchen Schluss soll nun Europa in Anbetracht der Ursachen ziehen?

Die Bronze der vom Meeresgrund in Navarino zur Otto-Zeit heraufgeholten türkischen Kanonenrohre ist heute mit der Bronze der Münchner Bavaria vermischt.

Je vager die Situation, desto näher der Tag an dem man in Griechenland ahnt, dass man den Weg Ottos I. zum Nachteil abgebrochen hat. Einzusehen ist das dann, wenn man die absolutistische Komponente vom Ganzen abzieht. Aber hätte nicht gerade sie die perfekte Lösung erzwungen?

Oft beginnt eine große Sache mit der richtigen Vision, und Wolken des Zweifels, die später nachfolgen, ziehen nur durch. Wenn in der immer feiner zugespitzten Situation die Spitze abzubrechen droht, würde es die Krise mit Perfektion beenden, wenn sich ein griechischer Volksentscheid für die Kopie der bundesdeutschen Verfassung ausspräche, naturgemäß mit den griechenlandspezifischen Kleinkorrekturen. Diese Entscheidung würde nicht nur der Stellung Griechenlands und Europas in der Welt in einem Zuge Unmissverständlichkeit garantieren, sondern würde zudem die innere Einigkeit Europas vervollständigen. Die Griechen sind immerhin in der indoeuropäischen Völkerschaft mit hoher Sicherheit einer von den heute „deutsch“ genannten Germanenstämmen, wie in PM(181), (182), (184) nachzulesen.
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Portrait der Platonakademie
Die 1995 erneuerte Platon-Akademie (PA) versteht sich als Fortsetzung und Abschluss der antiken. Sie versucht, im naturwissenschaftlich widerspruchsfreien Konsens die richtige Antwort auf die von Platon gestellten Fragen nach der Herkunft der Naturgesetze und nach der besten Gesellschaftsform zu finden. Sie strebt keinen juristischen Status an (Verein etc.) und ist überwiegend eine Internet-Akademie.
Die PA wurde 529 von der Kirche aus weltanschaulicher Konkurrenz verboten.

Kontakt: Anton Franz Rüdiger Brück, geb. 1938, Staatsangehörigkeit Deutsch. Humanistisches Gymnasium. Hochschulstudien: Physik, Mathematik, Philosophie, Pädagogik. Ausgeübter Beruf: Bis 2000 Lehrer im Staatsdienst. Zuschriften bitte per Post an: s. Impressum in platonakademie.de



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