Platonakademie(158). Ethik: Wohltätigkeit nützlicher als moralische Aufsicht / Franziskanische Wende / Höchste Zeit für eine Theorie der natürlichen Ethik / Heraklit gegen Mose / I. die Situation, II. die Theorie.

Platon-Akademie, 17. Oktober 2013

I. Die Situation.

Das Privatleben wird immer autonomer und sogar im privaten Sexualverhalten verlieren gottesfürchtige Vorschriften nach und nach die Zuständigkeit. Die Kirche hat großen Erfolg dagegen mit ihrer caritativen Tätigkeit. Man fragt sich, ob sich die Privatsphäre jemals wieder der Kontrolle des Glaubens unterwerfen lässt.

Angesichts dieser Situation, die die Unstimmigkeiten zwischen modernem Wissen über die Natur und vorwissenschaftlichen Vermutungen über die Natur wiedergibt, wird es höchste Zeit für eine theoretisch relevante Ethik der Privatsphäre, die die Begriffe definiert und die Werte ordnet. Sie muss diejenigen kulturellen, meist religiösen Normen kennzeichnen, die von der natürlichen (angeborenen, biologischen) Veranlagung des Menschen zurückgewiesen werden, weil sie Zwänge bedeuten. Zwänge sind Konflikte. Was sie auslösen, erlebten wir in den vielen Religionskriegen und heute in dem religiösen Dauerterror verschiedene Lager (PM(147)). Idealismus und Ideologien können über diese Dinge nicht wie ehedem urteilen.

Erich Weber definierte kulturell geschaffene Normen als „Werte mit Sollenscharakter“*). Das Sollen wird von Menschen ausgesprochen und erzieherisch vermittelt. Es handelt sich um Pflichten. Die Sozialisation des jungen Menschen (sein Erlernen kultureller sozialer Normen der Massengesellschaft, Weber a.a.O. S.39) führt manchmal zu Erziehungsschwierigkeiten bis hin zur Kriminalität. Die sozialen angeborenen Normen der kleinen Privatsphäre müssen dagegen nicht gelehrt, höchsten gelenkt werden.

Der neue Papst greift nun, für die ganze Welt sichtbar, ausgerechnet auf den Heiligen Franziskus zurück, der während der Spätscholastik in der Natur Werte und Normen ahnte, als die Theologie fortlaufend neuen Überlegung ausgesetzt war. Er kannte die Natur freilich nicht näher. Er war eine Art biologischer Kopernikus, der aber in der Tradition stecken blieb im Vergleich zum astronomischen Kopernikus, der gegen das Ptolemäische Weltbild antrat. Eine das Lebendige und die religiösen Vorschriften berührende „franziskanische Wende“ hatte es in diesen Jahrhunderten gewiss nicht leicht, doch hatte es die astronomische schon schwer genug! Ein halbes Jahrtausend nach Franziskus, im 18. Jh., unternahm J.J. Rousseau einen gezielteren Versuch. Er galt der Aufklärung als Spinner und ist es für Anthropozentriker heute noch.

Allerdings sind heute erstmals überhaupt Sachkenntnisse vorhanden. Der Kosmma-Prozess der komplexen Motive etwa und ihres Ausgleichs wurde von der PA (erstmals?) untersucht (PM(68)). Man kennt die Gesetze der innermenschlichen wie außermenschlichen Natur also gut. Für eine franziskanische Wende ist der Weg viel weniger steinig als im Mittelalter und im 18. Jh. Es ist möglich geworden, die kulturellen Normen in dem Bezugssystem der menschlich arteigenen und konstanten Normen (Motive) klar zu beurteilen. Kulturelle Normen kommen von außen, Motive der Natur von innen. „Motive von außen“ und „Normen von innen“ sind problematische Begriffe. Der Unterschied hat immerhin, wenn auch unbewusst, die fortschreitende Resignation der Moraltheologie und auch die Kirchenaustritte eingeleitet.

Definitionen: Wenn lat. „die Moral“ das System der kulturellen Normen (auch Pflichten) bezeichnen soll, empfiehlt sich gr. „das Ethos“ für das System der angeborenen Motive. Ethik ist die Wissenschaft von Moral und Ethos. Die Wissenschaft vom Ethos ist dann der Kosmma. Die Wissenschaft von der Moral ist die Theologie (oder auch eine politische Ideologie).

Dass es kulturelle, auch religiös-kulturelle Normen gibt, die nur ergänzende und keine verändernde Funktion haben, ist nicht zu bestreiten. Solche zur Ergänzung der angeborenen Normen entwickelte Kulturnormen (z.B. biologisch verträglicher Fortschritt, Sprachen lernen, ästhetisches Gestalten) werden von niemand angefochten. Die Motivsysteme als zu reflexnahe Instinkte zu deuten, knüpfte noch an Darwin an, der in Unkenntnis der Komplexität verständlicherweise das Schema von Mutation und Selektion und vom Überleben des Stärkeren erfand (s. in PM(99)).

Die Bedingungen einer der Spezies Mensch nicht entgegenstehenden Ethik (des Privatlebens) hat die PA in einer Reihe von Artikeln zusammengestellt und mitgeteilt**). Man muss diese Komponenten nur zusammensetzen. Erster Schwerpunkt ist die biologische Komplexität (PM(55)) der Natur, die alle Vorstellungen übersteigt und der Menschheit daher keine Chance gibt, an der Natur willkürlich etwas Wesentliches zu ändern, ohne das Gleichgewicht der Komplexität (PM(112)) zu stören und zu zerstören. Die Proteste gegen die Naturzerstörung haben rapide zugenommen. Für die innere Natur des Menschen gilt dasselbe: Neu erdachte Normen erzeugen Konflikte sozialer und gesundheitlicher Art. Als erster hat sich S. Freud damit beschäftigt und die Herkunft der Neurosen aus der Verdrängung angeborener Motive erklärt. (Anmerkung: Das Wort Instinkt ist ein wenig veraltet, weil es angeborenen Verhaltensnormen den Anschein gibt, schematisch starr zu sein. Sie mögen wohl reflexartig erscheinen, aber ihre verborgene Struktur und Wechselwirkung macht sie höchst vielgestaltig, s. PM(68).)

Dem zweiten Schwerpunkt war PM(18)) gewidmet: Während der letzten 10 Jahrtausende entstanden Massengesellschaften. Der Mensch als Kleingruppenwesen wurde in sie hineingeboren. Die für die neue Massengesellschaft nötigen kulturellen Normen kann er bis heute nur teilweise internalisieren. Sein Genom macht gegen einige von ihnen massiven Widerstand mobil. Zuvorderst ist es die sexuelle Veranlagung, die der Mensch zwar mitbringt, die aber in eine Massengesellschaft nicht passt. Das Problem haben vor 100 Millionen Jahren staatenbildende Insekten perfekt gelöst. Sie haben die Sexualität aus der Volksmasse genetisch eliminiert. Das dauerte Jahrmillionen. Wir können das nicht nachmachen. Seit Jahrtausenden versucht es der Monotheismus ohne den geringsten Erfolg.

Man versteht, dass anthropozentrisch orientierten Kulturmenschen, die das Erdachte in unserer Lebenswelt am höchsten schätzen, die angeborenen Werte abwegig erscheinen und dass sie sie verdrängen, ignorieren. Für die Kirche und die Industriewelt sind die ökologischen Erkenntnisse eine besondere Enttäuschung: Die ökologische Ebene des Lebens, die äußere Natur des Menschen, ist zu seinem Genom und den von ihm geprägten Werten kompatibel. Vernichtung ökologischer Grundlagen schlägt auf die innere Natur des Menschen durch. Das erkennt man ganz deutlich an der Verteidigung von Werten wie Naturliebe und natürliche Schönheit. Der Mensch muss die anthropozentrischen Vorrechte vor aller Natur (PM(52)) aufgeben. Seine Willkürwirtschaft lässt sich nicht fortsetzen. Daher die schmerzhafte Energiewende. Konservative Strömungen haben im Konflikt mit sich selbst den Begriff Naturschutz durch den Begriff Umweltschutz ersetzt, um die Wege der Willkürwirtschaft offen zu erhalten. „Umwelt“ beinhaltet schließlich auch Autobahnen, auch solche, die Wälder durchschneiden, und Umweltschutz rechtfertigt demzufolge Abholzungen ohne Rücksicht auf Lebensgrundlagen.

In dieser Konfrontation der Begriffe kommt die franziskanische Wende in Bewegung. Franziskus sprach mit dem Wolf, hob den Regenwurm vom Boden auf, damit er vom Menschen nicht zertreten wurde. Es waren im Kern Absagen an die Privilegien.

Die Enttäuschung freilich, nicht mehr willkürlich schalten und walten zu können, wird durch die normative Entlastung der individuell angeborenen Verhaltensmotive zu einem guten Teil ausgeglichen. Das Lebensglück wird gesteigert. Es ist dennoch eine unausweichliche Tatsache: Der Mensch hat mit seiner monotheistischen Religion, die ihm absolute Rechte über die Natur verlieh und seine innere Natur anders regulieren will als sie vorgegeben ist, von sich ein völlig falsches Bild entworfen.

II. Das Wesentliche einer Theorie der Ethik.

Erst wenn eine Theorie ein (echtes, unbezweifelbares) Axiom besitzt, hat sie Aussicht auf Vollständigkeit. Zwei frühe axiomatische Ansätze versuchten zu einer schlüssigen Gesamtschau zu gelangen: Um 1500 v.u.Z. war es das Gott-Vater-Axiom („Ein Vatergott hat alles erschaffen“) vermutlich eines Philosophen namens Mose. 1000 Jahre später folgte das Heraklitische Zeit-Axiom „Alles fließt“***). Der erste Ansatz kam nicht über Spekulationen hinaus, der zweite blieb in den Anfängen stecken.

Mose konnte die Sache ohne Kenntnis der Komplexität nur sehr emotional anpacken. So fiel das erste Axiom bezweifelbar aus und war damit kein echtes. Weil es, als erstes der Geschichte, sogleich auch voreilig mit 10 Geboten die gesamte Ethik klären wollte, kollidierte es mit der arteigenen Biologie des Menschen, und das sorgte für den eigenen Verfall. Gott hatte ihm die Tafeln persönlich aus einem an die Hölle gemahnenden Feuer heraus überreicht. Der sozial prägenden Geschlechtlichkeit war nicht einmal diese Autorität gewachsen: Sie zwang der Menschheit das Gebot der Keuschheit auf. Es sollte ein Machtwort über das in den wachsenden Massenstädten drohende soziale Chaos sprechen, an das noch die Legende von Sodom und Gomorrha erinnert (Ergänzendes in PM(18), (62) und (63)).

Anders verlief die Geschichte des Heraklitischen Ansatzes. Der Ansatz war unbezweifelbar und somit ein echtes Axiom. Eine detaillierte Ethik wurde aber nicht sofort zusammenphantasiert. Einzig Heraklits Ausspruch „Die eigene Art wird dem Menschen zum Schicksal (éthos anthrópo daímon)“ (Fr. B 119) verriet eine erste emotionslos-zielsichere Beurteilung der ethischen Ansprüche des Individuums Mensch.

Es hätte damals erst einmal überhaupt einer Theorie des „Alles fließt“ bedurft, um die Herkunft der Naturgesetze selbst zu verstehen. Diese Analyse des historisch zweiten Axioms blieb im Schatten der Denkgewohnheiten liegen. Das, obwohl die Formalisierung der Gegenwartsbedingung keine Kunst gewesen wäre. Heraklit und nach ihm Xenokrátes an der antiken PA waren mit scharfsinnigen Bemerkungen schon unmittelbar bei ihr angekommen (erwähnt in PM(17)). Abermals 1000 Jahre danach, um 500 u.Z., klagte zu Recht der drittletzte Leiter der antiken PA, Marinos „oh wäre doch alles Mathematik!“ Und der Kilikier Simplikios zählte um 530 erstaunt vermeintliche Parádoxa einer fließenden Zeit auf. Er scheiterte v.a. an der Schwierigkeit, der Gegenwart eine unendlich kurze Dauer zuschreiben zu müssen. Wie der Leser der TFZ weiß, gehört zu ersten Folgerungen aus der GB, dass die Gegenwart nicht unendlich kurz ist (PM(74)). Zur Formalisierung der GB führte im 20. Jh. also genau die Auflösung des Parádoxons, das den Simplikios beschäftigt hatte.

529 n.Chr. zerschlug die bronzezeitliche Tradition die PA und unterband sozusagen im letzten Moment die
Beschäftigung mit der Sache. Das ist jetzt eineinhalb Jahrtausende her.

Die weitläufige Reihenfolge der Erkenntnisse ist: GB – Naturgesetze – Unendliche Universenordnungen – Ethik. Die UO umfassen nämlich jenes in den zwei antiken Ansätzen angesprochene „alles“, zu dem dann schließlich auch die Ethik gehören muss. Blicken wir auf den Fundamentalsatz (PM(113)), so lässt sich sagen: Die UO verursachen alles, was größer ist als der Punkt (PM(7)). Sie schließen die Existenz eines mystischen, vom Raum unabhängigen „Geistes“ logisch aus (mehr in PM(113)). Seele, Bewusstsein und Geist, lauter diffuse Begriffe, lassen sich tatsächlich logisch als „Wirklichkeit“ (= Tatsache) der Komplexität der Atomkoordinaten zur Zeit T verstehen (mehr in PM(55) und (149)). Diese Molekularbiologie ist die einzige von den UO zugelassene Grundlage des Lebens, der Schlüssel zum Kosmma-Prozess des Lebendigen und damit zur Ethik der Arten: den „Werten mit Ausgleichscharakter“.

Auf dieser Ebene (Letzte Ursache plus Komplexität des Ich) beantworten sie logisch auch die uralte Frage nach der zeitlich unbegrenzten Existenz der „Seele“, besser des „Ich“, des „Subjekts“, des „Bezugssystem O“ (s. PM(53) bis (56) und PM(148) bis (152)). Das unendliche Ordnungssystem existiert in(!) dieser Person und macht das Wesen des Ich transzendent (PM(53)). Das Ich ist geistig im Sinne Platons, bzw. in dem Sinne, dass das Zahlensystem, das die UO verkörpern, geistiger (vom Ich gedachter) Natur ist. Darin steckt auch die Vision des Pythagoras****).

Der Weg der Religion führte (und führt) auch deshalb ins Leere, weil sie ihren postulierten Welterschaffer nicht zu einem Subjekt machen konnte, sondern nur zum Objekt eines Vater-Gottes, ausgestattet mit spekulativer Allmacht. Zwar bestimmen die UO allmächtig alle Naturgesetze, doch nicht im naiven Sinne einer allmächtigen Person, die aus einem mysteriösen Willen Gewitter und Erdbeben erzeugen kann. Allmächtigkeit der naiven Art gibt es nicht, auch nicht für das Ich. Berühmt ist der Beweis der inneren Widersprüchlichkeit von Allmacht: Ein Allmächtiger kann keinen Stein so schwer machen, dass er ihn nicht aufheben kann.
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*) Erich Weber, PÄDAGOGIK I, 6. Aufl. Donauwörth 1972, S.39
**) Auswahl: PM(18), (52), (55), (62), (63), (68), (99), (112), (126), (147).
***) In PM(17) wurde mitgeteilt, dass die Formulierung „Alles fließt“ nicht das originale Wort Heraklits ist. Es fasst zwei seiner Feststellungen zusammen, von denen eine sagt, man steige in denselben Fluss, aber es sei doch nicht derselbe. Die spätere Lesart ist dann logisch zutreffend: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen“. Man hört die Ausschließlichkeitsform To1=T heraus. „Alles fließt“, die eleganteste Formulierung, stammt wahrscheinlich erst von Aristoteles. Es wäre angebracht, auf diesen ersten Schritt des umfassenden Wissens in einer speziellen PM einzugehen und sich klar zu machen, mit was sich Griechen beschäftigten. Auch ihre Wirtschaftssorgen würden da einmal besser verständlich.
****) In der philosophischen Begriffswelt hinterlässt dieser Zusammenhang eine Spur: Materie ist Geist. Geist ist Materie. Lebendiger Geist ist „nur“ die Gesamtheit aller Funktionen der komplexen atomaren Koordinatenstruktur. Der hilflose Dualismus Materie/Geist, inspiriert von den Anfängen vor 3000 Jahren, wird beendet. Empirische Faktenforschung bleibt trotzdem (auch in der Physik) das hilfreiche Treppengeländer der Erkenntnis, besonders in der Biologie, wo die Komplexität die Anwendung der Mathematik überfordert. Nur deshalb, weil empirische Fakten immer erst der vagen Ausdeutung bedürfen, ist die axiomatisch-formale Methode a priori überlegen. Ihre absolute Grenze besteht erst in Kurt Gödels Unvollständigkeitsbeweis. Zur Vertiefung sei das kleine naturwissenschaftliche aber populäre Buch „DER GEIST IM ATOM“ von Davies und Brown empfohlen.
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Portrait der Platonakademie
Die 1995 erneuerte Platon-Akademie (PA) versteht sich als Fortsetzung und Abschluss der antiken. Sie versucht, im naturwissenschaftlich widerspruchsfreien Konsens die richtige Antwort auf die von Platon gestellten Fragen nach der Herkunft der Naturgesetze und nach der besten Gesellschaftsform zu finden. Sie strebt keinen juristischen Status an (Verein etc.). Die PA wurde 529 von der Kirche wegen weltanschaulicher Konkurrenz verboten.
Leitung: Anton Franz Rüdiger Brück, geb. 1938, Staatsangehörigkeit Deutsch. Humanistisches Gymnasium. Hochschulstudien: Physik, Mathematik, Philosophie, Pädagogik. Ausgeübter Beruf: Bis 2000 Lehrer im Staatsdienst. Mail: platonakademie(at)aol.de


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