Platonakademie(124). Europa, den 28.11.2012: Die Neuauflage einer Solon‘schen Schuldenschnitt-Politik muss einen unerkannten Neo-Drakonismus überwinden / Das „Modell Finanzierung direkt“

Platon-Akademie, 28. November 2012

Die griechische Krise ist eine typische Krise nach PM(18). Die Athener Besitz-Aristokratie ruinierte im 7. Jahrhundert v. Chr. durch eigennützigen Missbrauch der Wirtschaft das Land Attika. Sie verkaufte damals den größten Teil des Getreides, des attischen Haupterzeugnisses, und strich die Gewinne ein, so dass Hungersnot unter den Kleinbauern entstand, die sich immer mehr verschulden mussten. Ihr Eigentum, die Grundstücke, mussten sie an die Bereicherten abtreten. Wer zahlungsunfähig wurde, endete in der Sklaverei.

Besitz-Aristokratie ist schwer zu definieren, da sie je nach Besitzart verschieden tief in der Bevölkerung – mit Ausnahme der Unterschicht – wurzelt. Im 7. Jh. v.Chr. war Besitz in erster Linie Landbesitz, dessen Erzeugnisse Gold einbrachten. Heute verkörpert die gesetzgeberische Macht die Besitz-Aristokratie, indem wohlhabende Politiker in Union mit reichen Aristokraten aus der Industrie handeln. Ob Einzelne aus der damaligen Besitz-Aristokratie zugleich zur Bildungs-Aristokratie gehörten (beides sind Antipoden, die sich auf ihrer Verbindungslinie aber vermischen) und in dieser Position aus ihrem Reichtum Interessen von Besitzlosen finanzierten, ist nicht bekannt, während es heute öfter vorkommt und rückwirkend natürlich persönlichen Reichtum rechtfertigt.

In das krisenträchtige Ungleichgewicht infolge dauernder Machtkämpfe zwischen Reich und Arm griff 624 v. Chr. Drakon ein, halbmythischer Vertreter der vorherrschenden Besitz-Aristokraten, und erklärte deren Vorgehen für rechtens. Die bis heute sprichwörtlichen „drakonischen Gesetze“ waren gemäß Überlieferung extrem streng. Ob er allein auftrat, ist unbekannt. Drakon heißt „Drache“. Vermutlich hieß der Politiker anders und wurde von den Gegnern der Aristokraten so genannt. Der Personenname, der auch den (Wunsch-)Charakter der Person unterstreichen sollte, wäre andernfalls ungewöhnlich. Aber immer wenn es um die Geschichte der sozialen Gegensätze geht, neigen Historiker zur Parteilichkeit und bewerten Fakten nach eigenem Zugehörigkeitsgefühl, nachdem die „Fakten“ jener Zeit ohnehin erst von Späteren aufgezeichnet waren.

Die heutige Situation Griechenlands ähnelt in vielem jener frühgeschichtlichen. Europa will das Balkanland aus seiner abermals durch Missbrauch entstandenen Not befreien. Aber wie! Die Finanzierung erreicht das notleidende Volk nicht. Wohl aber treffen es in aller Härte die auferlegten Sparmaßnahmen. Seine Kaufkraft wird durch sie geschwächt, mit ihr die Binnenwirtschaft. Dass die Not enorm steigt, zeigen Arbeitslosigkeit und wachsende Selbstmordrate. Familien müssen ihre Kinder weggeben, weil sie sie nicht mehr ernähren können u.v.m. Für die Not der Unterschicht hat die Besitz-Aristokratie keine Antenne, in ganz Europa nicht, in Deutschland erst recht nicht. Es gibt zu viele Lippenbekenntnisse. Das zeigt der aktuelle Armutsbericht. Der Rettungsschirm Europas steht aus diesem Grund einem „Neo-Drakonismus“ nicht fern: Die Pflichten dem Volk, die Rechte der Aristokratie, nicht der Bildungs-Aristokratie wohlgemerkt, sondern der Besitz-Aristokratie.

Da man sich heute mit den widerstreitenden Argumenten ohnehin kaum noch auskennt, kann man unschwer die Bitterkeit der Not anderer aus der Realität hinausreden und die Banken als alleinige Repräsentation der Gesellschaft hinstellen.

Deutschlands Finanzphilosophie ist momentan Vorreiter des Neo-Drakonismus. Die führenden Politiker scheinen aus gutem Grund die griechische Frühgeschichte weit weniger gern ins Gespräch bringen zu wollen als die aktuelle. Falls sie sie überhaupt kennen; denn nachdem kürzlich ein Tiefdruckgebiet den Namen „Xerxes“ bekommen hatte mit der Erklärung „Xerxes war ein ägyptischer Pharao“, könnte es sein, dass auch deutschen Politikern unbekannt ist, wie das mit Hellas und Drakon damals war.

Dabei reden wir hier – das sei unbedingt angemerkt – auf rein politischer Ebene; soll heißen ohne Einbeziehung der übergeordneten Bewertungsebene Ökologie, von der aus beurteilt die Lage der Menschheit ohnehin erst im wahren Umfange deutlich wird (s. a. die Schlussbemerkung).

Wohin dieses Europa mit seinen schwachen Mitgliedern triftet, wird man abwarten müssen. Drakon hatte der Zeit entsprechend zu Gunsten der Aristokratie die Entwicklung der Volksherrschaft blockiert. Mit Hilfe des Drucks der verschuldeten Unterschicht konnte sich nach ihm der Athener Solon als Führer der notleidenden großen Mehrheit gegen die Aristokratie erstmals durchsetzen und erließ 593 v. Chr. den Enteigneten ihre Schulden, gab ihnen ihr Land und ihre Rechte zurück. Er selbst war verarmter Aristokrat, kam aus der Bildungs-Aristokratie und zählt bis heute zu den sieben Weisen. Er begründete mit dem Schuldenschnitt – das Wort klingelt uns in den Ohren – die Gleichberechtigung, den gemeinsamen Nenner aller Demokratievarianten. Als Archon von Athen konnte er die Gleichberechtigung gesetzlich festschreiben.

Die moderne deutsche Besitz-Aristokratie versucht einen Rückwärtsgang dieser Entwicklung. Sie versucht wieder, die Mitwirkung des Volkswillens zu schwächen. Mit der verbaltechnisch heute möglich und üblich gewordenen hochfrequenten Meinungsmodulation behauptet sich ein nicht analysierbares, nicht dokumentierbares Verwirrspiel, mit dem man wie mit einer Versuchssonde ständig den Volkswillen beobachtet, um ihn aus dem politischen Prozess fernhalten zu können. Beispiel: Der aktuelle Armutsbericht ist als nicht fertig vorgestellt worden, wurde aber bekannt gemacht, um als Versuchsballon zu erkunden, ob seine Schönfärbung auffällt. Solche Blitzversuche, auch z.B. wenn das Parlament durch 9 bevollmächtigte Vertreter ersetzt werden soll, verschwinden sofort im Nichts, sobald sie ihr Scheitern auch nur andeuten. Das Volk wird also nicht, wie in der unkomplizierteren Antike, niedergemacht, aber vernachlässigt, und seine Vernachlässigung wird mit Wahlgeschenken vernebelt, um seine Mitwirkung ruhigzustellen. Inzwischen geht die soziale Schere immer weiter auf, fallen in Deutschland schon viele Menschen der Sozialpolitik zum Opfer: Kleinstverdiener, Schüler, Obdachlose, in Zukunft die Rentner. Allgemein verliert das persönliche Leben humane Rechte, z.B. wenn die Lobby den zahlungsunfähig Gewordenen einfach den Strom abschaltet. Es gibt keine Instrumente, hier einzugreifen, weil sie unschädlich gemacht werden. Am Schluss siegt auf diese Weise doch wieder Drakons Geist: Es wächst eine ausgetrickste, um nicht zu sagen manipulierbare und damit tote Unterschicht heran.

In Reaktion auf die wachsende materielle Not schieben auf der anderen Seite EZB und IWF momentan die Schuldenschnittidee ins Gesichtsfeld, die man sofort wegen der Wahlen, sprich: aus Machtgründen ablehnt, aber dann doch ein bißchen diskutiert, dann juristisch zu vernichten sucht, dann doch wieder nicht usw. Gedacht werden sollte, gerade zur Außerkraftsetzung dieser Imponderabilien, an ein zum Schuldenschnitt paralleles zusätzliches Rettungsmodell: die Direktfinanzierung der griechischen Unterschicht.

Ein „Modell Finanzierung direkt“ – neues Kürzel: MFD – sähe so aus: Wirtschaftshelfer würden nach Griechenland geschickt, um vor Ort Kleinunternehmen zu prüfen. Solche, die bereit sind Arbeitslose einzustellen, würden gefördert, zwar kontrolliert aber ohne betriebliche Rückzahlungsverpflichtung, höchstens ggf. aus Steuereinnahmen des Staates. Gleichzeitig wäre die Steuerabführung an den griechischen Staat zu überwachen. So ein MFD wäre durchzurechnen. Es ist die Frage, ob das ESM-Kapital dafür überfordert würde. Wenn ja, wäre es auch für andere Modelle der Bekämpfung der Not nicht ausreichend. -

Kämpfe zwischen Reich und Arm sind ein genuines Musterschicksal aller humanen Massenstaaten. Jene Besitz-Aristokratie Attikas behielt trotz Solon großen Einfluss, und dem Reformer folgte um 560 die Diktatur. Der letzte Diktator Hippias musste dann vor der Bildungs-Aristokratie, vor allem vor den Alkmaioniden, zu den Persern fliehen. Erst aufgrund dieser Entlastung konnte 504 /502 der Alkmaionide Kleisthenes die bis heute vorbildhafte Demokratieform ausarbeiten. Er richtete Wahlbezirke ein (Demen). Listen für wählbare Bürger wurden erstellt. Es entstand das Athener Parlament der Fünfhundert.

Allerdings war und ist Demokratie eine knetbare Definitionssache. Die kleisthenische Form litt unter dem Mangel, dass Frauen und Sklaven von Ämtern ausgeschlossen waren. Auch jede heutige Demokratie leidet unter irgendeiner Unvollkommenheit. Denn Vollkommenheit lässt sich aus den in PM(18) genannten Gründen nicht erreichen. So ist es z.B. wegen der sehr dürftigen Trennung von Staat und Kirche mit den Frauen noch immer so eine Sache (vgl. platonakademie.de „HS“ 7, Stand 2010).

Weitere hundert Jahre später diskutierten deshalb Philosophen in der Akademie erstmals über den wirklich idealen Staat. In langen Dialogen schälte man, ohne es zu bemerken, Prinzipien der Insektenstaaten heraus: Diese Insekten entwickelten ein Genom mit der speziellen „Software“ für Massengesellschaften (PM(18), (63)). Platon nahm unwissentlich einen Teil des Erkenntnisstandes Darwins vorweg: er machte die Rechnung ohne den Wirt, nämlich ohne Rücksicht auf das ökologische Eingebunden-Sein der Menschheit, die ein anderes Genom besitzt und so den Insektenstaat als Despotismus empfinden muss, obwohl in ihm die ideale Gleichberechtigung stabilisiert ist.

Firmenportrait:
Die 1995 erneuerte Platon-Akademie (PA) versteht sich als Fortsetzung und Abschluss der antiken. Sie versucht, im naturwissenschaftlich widerspruchsfreien Konsens die richtige Antwort auf die von Platon gestellten Fragen nach der Herkunft der Naturgesetze und nach der besten Gesellschaftsform zu finden. Sie strebt keinen juristischen Status an (Verein etc.). Die originale PA wurde 529 von der Kirche wegen weltanschaulicher Konkurrenz geschlossen.
Leitung: Anton Franz Rüdiger Brück, geb. 1938, Staatsangehörigkeit Deutsch. Humanistisches Gymnasium. Hochschulstudien: Physik, Mathematik, Philosophie, Pädagogik. Ausgeübter Beruf: Bis 2000 Lehrer im Staatsdienst. Mail: platonakademie(at)aol.de


Original-Inhalt von Platon-Akademie und übermittelt von Platon-Akademie