Platon-Akademie (69): Sozialisation und Aufklärung. Rein ideologische Werte nicht erlernbar. Definitionen: Ethos statt Moral.

Platon-Akademie, 20. Mai 2011

Falls sich das Kosmma-Modell (PM(68)) allgemeingültig bewährt, macht es verständlich, warum Sozialisation längst zum Ewigkeitsthema geworden ist. Sozialisation bedeutet Eingliederung in die Massengesellschaft, und deren Werte sind, weil der Mensch keine Termite ist, stammesgeschichtlich nicht als sein biologisches Gleichgewicht vorprogrammiert (s. z.B. PM(62) und (67)). Menschen müssen daher die neuen Werte der Masse erst erlernen.

Nun ist Lernen ein aus der vor-biologischen Zeit übernommener Begriff, als die Wolken noch von Zeus bewegt wurden. Es erscheint, seit wir die Komplexität der neuronal-molekularbiologischen Zusammenhänge wahrnehmen, illusorisch, dass sich der Mensch rein ideologische (frei erfundene) Werte und entsprechende Motive auf dem Wege des konventionellen Lernens aneignen kann. Man nahm früher moralistisch an, er erlerne alles, sofern er nur nicht faul sei. Die Menschheit, die keine Komplexität verdauen kann, macht es sich mit solchen lernpsychologischen Spekulationen zu einfach. Dem Individuum steht als „Neues“ nur der Vorrat an Ersatzwerten und -motiven offen, der bereits im Genom aufbewahrt wird, und der Wechsel vom Motiv zu den Ersatzmotiven ist nicht so strukturarm wie die klassische Lernpsychologie meinte.

Für die Massengesellschaft heißt das: Die Ersatzmotive führen nicht, so wie die Primärmotive, direkt zu dem vorgesehenen artspezifischen Ausgleich, und deshalb bleibt stets eine mehr oder weniger gefährliche Störung übrig. In deren Folge geraten Staaten laufend in die Krise. Lerntheoretikern ist die Trieb-(Motiv-)Reduktion im Sozialisationsprozess zwar bekannt. Kaum jedoch berücksichtigen sie die ethische Bewertung. Ethisch halten sie sich an die vorwissenschaftliche Zeit.

In PM(62) und früher schon hat die PA an den Kommunismus erinnert. Die Gleichschaltung aller menschlichen Individuen eines Volkes scheitert an dem sehr starken, von der Zweigeschlechtlichkeit mitgetragenen Rangordnungs-(Status-)Instinkt, der die vorgeschichtliche Kleingruppe stabilisierte. Als Folge endet originaler Kommunismus, so zweckvoll er gesellschaftlich wäre, für den Menschen in der Despotie. Er wird zur Menschenverachtung. Alle kommunistischen Experimente erlagen nach Jahrzehnten den Instinkten, mit denen sich erst das 20. Jh. beschäftigte (vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt in seiner „Die Biologie des menschlichen Verhaltens“).

Bezeichnenderweise haben die staatenbildenden Insekten den Status-Instinkt gar nicht erst entwickelt. Marx konnte indes nicht auf die Idee kommen, dass er aus dem Menschen eine Termite hätte machen müssen. Man glaubte damals an die tabula rasa (John Locke), die Schlussfolgerung, den Menschen könne man wie eine leere Schultafel mit jederlei Programm beschreiben, weil er ja – gemäß seinem anthropozentrisch-spekulativen Idealismus – kaum noch Instinkte besitze und daher (als sei das bewiesen) ja zwangsläufig imstande sein müsse, völlig Neues zu internalisieren.

Auch andere Staatsformen erreichten den idealen Zuschnitt auf das Wesen Mensch nicht. (Auch der Gottesstaat nicht, dieser allerdings nur solange sein Beweis für die Existenz des Gottes aussteht; ansonsten wäre ohnehin alles anders.) Schließlich setzt sich im Meinungschaos der Demokratie-Gedanke durch und behebt tatsächlich etliche, aber nicht alle Schwächen der menschlichen Massenorganisation. In der Diskussion um die Staatsformen taucht letzten Endes weltweit die schon in PM(63) erwähnte Problematik des Individualismus auf: Solange der Homo Sapiens unökologisch hohe Bevölkerungsdichten stabilisieren muss, hat er die Einschränkung einiger ererbter Kleingruppen-Instinkte zu akzeptieren und alle durch diese Akzeptanz verursachten psychischen Dauerstörungen des biologischen Gleichgewichts zu ertragen.

Die Verknüpfung der überhöhten Bevölkerungsdichte mit der Freiheit (biologisch) optimaler Instinkte tendiert – wie einst schon im Hellenismus – augenfällig zur sozialen Unordnung: Auf den Straßen der Großstädte, in der Finanzwelt, in der Ökonomie. Vor allem der Rangordnungsinstinkt (in der Masse „jeder gegen jeden“) steht dahinter. Wir haben das Generalproblem der praktischen Sozialisation vor uns: das notwendige Übel, der ökologiewidrig vermehrten und somit störanfälligen Spezies Mensch soziale Stabilität zu gewährleisten. Höhere als solche utilitaristische Qualität besitzt dieses Motiv nicht. Aber sicher überzeugt es den einfachen Geist schonender als die auf den ágnostos theós gegründete Morallehre.

Als „das“ Charakteristikum der Massengesellschaften darf die Kriminalität gelten. In den schlimmsten Fällen wirkt sich der zu Zickzack-Wegen gezwungene Ausgleichprozess in Perversionen aus. Das Thema ist – wegen seiner Komplikationen durch die mythische Moral – umfangreich und nicht in einem Absatz zu erledigen, denn die Zusammenhänge überzeugend zu durchschauen, fällt ohne tiefgreifende Analyse der biologischen Grundlagen sowohl der Politik als auch der Rechtsphilosophie sehr schwer. Wegen ihrer geistigen Anspruchslosigkeit prägten sich die Mythen dem Homo Sapiens, der nun einmal kein Geistwesen nach Arnold Gehlen ist, tiefer ein als objektive Wissenschaft, und lassen sich nicht von heute auf morgen wieder herauslösen.

Die Wissenschaft fordert – so die Bilanz– nicht nur in der Zeittheorie neue Begriffe. Auch der Übergang von den steinzeitlich/bronzezeitlichen Werten zu den biologischen legt einen Begriffswandel nahe: Das biologische Wertesystem bezeichnet man künftig am besten mit dem gr. Wort „Ethos“ (Adjektiv „ethisch“) statt dem lat. Wort „Moral“ bzw. „moralisch“, das vorwissenschaftlich vorbelastet ist. Als Bezeichnung für die Diskussion des Themas lässt sich weiterhin „Ethik“ benützen.


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