Platon-Akademie (62). Thema Staatskrisen weiterhin hochaktuell

Platon-Akademie, 10. Februar 2011

Die Welt nicht mehr mythisch, sondern als logisches System zu verstehen, ist seit ca. 500 v.u.Z. Ziel der Erkenntnisprozesse. Der Mythos ließ sich allerdings nicht ganz eliminieren. Um 380 diskutierte Platon dann zum ersten Mal „die“ für den Menschen ideale Staatsform. Sein verblüffendes Resultat können erst wir heute mit biologischem Wissen beurteilen (s. PM(18).

1926 stellte der Philosophiehistoriker Wilhelm Capelle erstaunt fest: „Vor allem vergewaltigt dieser kommunistisch organisierte Staat das Individuum in seinen innersten seelischen und geistigen Bedürfnissen in einer unerhörten Weise . . .“ Capelle spricht von einer „ungeheuerlichen Verirrung“ (W. Capelle, Geschichte der Philosophie, II, 1; 2. Teil, Berlin und Leipzig 1926, S. 117). Zu Recht. Denn Platon hat intuitiv den Termitenstaat konstruiert. Auch sein Staat besteht aus einer Arbeiter-, einer Soldaten- und einer Regierungsschicht. Letztere soll die perfekt passenden Gesetze verfassen. Die Termiten haben eine echte Regierung mit derselben Aufgabe. Die Termitenkönigin teilt lediglich die „bürgerlichen“ Gesetze nicht in Buchstabenschrift aus, sondern pflanzt sie – mit der ökologischen Komplexität optimal abgeglichen – in DNS-Schrift direkt (als Verhaltensdispositionen) ins Genom des Volkes ein: So will der Einzelne immer, was er soll.

Da der Mensch ein Kleingruppenwesen ist, hat er nicht die erblichen Dispositionen, die solche Insekten auszeichnen. Für die erst im Holozän entstandenen Massengesellschaften brauchte er plötzlich eine neue motivgebende Ethik, die ihm artfremd war. Erziehung musste sein. Doch Erziehung bringt selten mehr zustande als die oberflächliche Überformung des Ererbten. Man spricht von Enkulturation und Sozialisation. Die Folge: Staatordnungen stottern ziemlich hilflos von einer inneren Krise zur andern. Es entstehen flächen deckende Konfliktherde:

1. Die Sensibilität für Unbekannte ist beim Menschen mangelhaft entwickelt. Das Prinzip Nächstenliebe versagte insgesamt, das zeigen alle Kriege. Unbekannte Zeitgenossen wurden immer herzlos ausgebeutet. Erziehungsdruck half nie weiter, und die manchmal herbeigerufene „Schwarmintelligenz“ von Fischen und Vögeln ist genetisch nicht auf das Kleingruppenwesen Mensch übertragbar. Während die staatenbildenden Insekten jeden der Millionen anonymen Mitbürger instinktiv gleich behandeln, vermag der Mensch Verbände mit über 20 Individuen zunehmend schwer zu überschauen. Das Individuum als „Nummer“ ist etwas für staatenbildende Insekten. Bei ihnen gibt es keinen Individualismus, keinen Liberalismus. Beispiel: Bereits in Schulklassen mit über 20 Schülern lässt die Fürsorglichkeit nach. 20 Personen, das war etwa auch die Obergrenze in der Ur-Familie.
2. Der Mensch besitzt einen Rangordnungsinstinkt, der sogar in der Demokratie Machtstrukturen erzeugt. Immer ist die höchste Rangstufe das Hauptziel. In der Urfamilie war Rangordnung nützlich und auch beliebt. Die Macht war durch Fürsorge ihrer Gefährlichkeit beraubt. Im Insektenstaat ist dieser Instinkt unterbunden.
3. Der Mensch ist ein sexuelles Wesen. Sexualität relativiert die totale Trennung von Gruppen. Die Sexualität, auch bedeutendes Thema der Kunst, vererbt zudem eine maximal mögliche Lebensfreude. Die Massengesellschaft kann diesen Sozial-Instinkt jedoch nicht gebrauchen, weil er Privatinteressen aufwertet. Deshalb hat auch Platon im STAAT das Sexualleben zurückgedrängt. (Im SYMPOSION wertet er es auf; doch dort geht es ihm ums Individuum)

Portrait der Platonakademie:
Die erneuerte Platon-Akademie (PA) versteht sich als Fortsetzung und Abschluss der antiken. Es geht ihr aber nicht um die Fortsetzung der spekulativen Philosophie, auch Textkritik ist die Ausnahme. Sie versucht, im naturwissenschaftlich widerspruchsfreien Konsens die richtige Antwort auf die von Platon gestellten Fragen nach der letzten Ursache der Wirklichkeit und nach der Gesellschaftsordnung zu finden.
Leitung: Anton Franz Rüdiger Brück, geb. 1938, Staatsangeh. Deutsch. Humanistisches Gymnasium. Hochschulstudien: Physik, Mathematik, Pädagogik, Philosophie. Ausgeübter Beruf: Bis 2000 Lehrer im Staatsdienst. Mail: platonakademie(@)aol.de


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